Striptease: Roman (German Edition)
für den Spiegel. Er hatte ihn für Erin hängenlassen, damit sie sich selbst im Augenblick der Entdeckung sehen konnte, damit sie den Schock in ihrem Gesicht wahrnahm, sobald ihr klarwurde, was er in Angies Zimmer getan hatte. Damit sie sich selbst weinen sah.
Aber sie weinte nicht.
Sie berührte nichts und verließ das Zimmer. Dann eilte sie nach draußen und fragte die freundlichen Mormonen, ob sie ihr einen Fotoapparat ausborgen könnten.
Darrell Grants Schwester wohnte in einem Campingwagenpark dreißig Meilen südlich von Miami. Sie teilte sich einen Doppelwagen mit einem Mann, der nachts als Wächter im Kernkraftwerk in Turkey Point arbeitete. Der Name des Nachtwächters lautete Alberto Alonso. Er begrüßte Erin freundlich an der Campingwagentür. Die Tatsache, daß sie eine Berufsstripperin war, machte ihn schwindelig vor Aufregung.
»Komm rein, komm rein!« jubilierte Alonso. Er breitete die Arme aus und versuchte eine Umarmung. Es war eigentlich mehr ein Vorstürzen. Erin wich geschickt seinem Zugriff aus.
»Wo ist Rita?« fragte sie.
»Draußen bei den Welpen«, sagte Alberto. »Lupas neuem Wurf – möchtest du sie dir mal ansehen? Wir haben sogar ein Albinobaby.«
»Später vielleicht«, sagte Erin. Lupa war das Haustier der Familie, eine Kreuzung zwischen einem deutschen Schäferhund und einem wilden Alaskawolf vom Mount McKinley. In regelmäßigen Abständen ließ Rita die Hündin Lupa von anderen Wölfen decken. Sie konnte die Welpen für dreihundert Dollar pro Tier verkaufen, manchmal sogar für noch mehr. Das war der letzte Schrei, da Pitbulls ein wenig aus der Mode gekommen waren.
»Sechs Junge«, berichtete Alberto, »und der einzige Rüde ist ein Albino. Du solltest mal sehen, wie dick seine Eier sind.«
Erin nickte. »Du bist sicher sehr stolz.«
»Ich versuche, die Betreiber des Kraftwerks dafür zu interessieren.«
»Für was?«
»Wolfshunde, wofür sonst?« Albertos Grinsen entblößte zahlreiche Zahnlücken. Erin fragte sich, wie jemand soviel Vertrauen in einen Nachtwächter setzen konnte, dem derart viele Zähne fehlten.
»Stell dir nur mal vor«, fuhr Alberto fort, »ganze Wolfsrudel bewachen das Gelände. Und schon droht keine Gefahr mehr durch Terroristen. Und es gibt keine Sabotage mehr.«
Die Fliegentür schwang auf, und Rita stürmte herein. »Al, wie oft habe ich dir schon erklärt – das sind keine Wachhunde. Sie haben nicht den geeigneten Charakter dafür.«
Sie trug einen Hausanzug, Riemchensandalen, eine Baseballfängermaske und dicke Schutzhandschuhe aus Leinen, die bis zu ihren Ellbogen reichten. Ihr Anblick erinnerte Erin daran, daß keiner von Darrells Angehörigen auch nur annähernd normal war. Bei den Grants war die Fortpflanzung das reinste genetische Roulette.
»Hallo, Rita«, sagte Erin.
»Oh. Grüß dich.« Rita nahm die Fängermaske ab und entblößte eine häßliche Spur frischer Wundnahtstiche von der Mitte ihrer Stirn bis hinunter zu ihrem Nasensattel. »Lupa«, erklärte sie. »Sie reagiert verdammt gereizt, wenn man ihren Welpen zu nahe kommt.«
Alberto fragte: »Erin, Liebling, möchtest du etwas trinken?«
»Mit einem Glas Wasser wäre ich schon zufrieden.«
»Nein, ich meine einen richtigen Drink.«
»Mach gleich noch einen zweiten«, meldete sich Rita.
»Nur Wasser«, sagte Erin. »Ich kann nicht lange bleiben.«
Alberto war eindeutig enttäuscht. Er schlurfte zum Kühlschrank und machte sich an einer Eisschale zu schaffen. Rita streifte die Arbeitshandschuhe ab und sagte: »Also, das ist aber eine Überraschung.«
Erin sagte: »Es geht um Darrell. Er hat es schon wieder getan.«
»Nun reg dich doch nicht auf.«
»Weißt du, wo er ist?«
»Nein, Ma’am, das weiß ich nicht.« Rita ließ sich auf ein schwarzes Kunstledersofa sinken, das unter ihrem Gewicht leise seufzte. Sie fragte: »Arbeitest du immer noch in diesem Tittenladen?«
Rita war nicht so einfach zu nehmen. Sie spielte ständig mit Hingabe die Dumme und Unwissende. Alberto war das schwächere Glied in der Kette.
»Ich habe gehört, daß die Bezahlung sehr gut ist«, bemerkte Rita. »Aber das ist auch verdammt noch mal richtig so.«
»Wann hast du das letztemal mit deinem Bruder geredet?« wollte Erin wissen.
»Mein Gott, daran kann ich mich nicht erinnern.«
Alberto erschien wieder mit Wasser für Erin und einem Bourbon für Rita. Beides wurde in Marmeladengläsern serviert, die mit Fred Feuerstein verziert waren. Unvermittelt fragte Alberto: »Wie steht es
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