Strom der Sehnsucht
Maß, in dem seine Kräfte nachließen, mußten auch seine Gegner schwächer und ungeschickter werden, und wenn die Niederlage kam, würde es gegen Ende sein, und sie würde ihm dann leicht durch den Schwächsten seiner Gegner beigebracht werden. Als erstes aber sollte der schlaue, narbige Veteran seinen Willen und seine Ausdauer auf die Probe stellen.
Wie Angeline vorhergesehen hatte, war der Kampf eine Quälerei. Gustav war der Gerissenere und Erfahrenere; er lieferte Meyer einen schweren Kampf. Nach ein paar Minuten aber fing er an, flach zu atmen. Meyer schlug daraufhin auf Rippen und Zwerchfell und wählte die Ziele mit Sorgfalt. Mehrere Male wurde seine Deckung unterlaufen, und einmal steckte er über dem Ohr einen Schlag ein, daß er den Kopf schüttelte und taumelte. Er erholte sich aber, und kurz darauf hob Gustav seinen Stock mit beiden Armen hoch über den Kopf und gab auf.
Leopold war sportlich und ausgeruht, und da er Rolfs ersten Zorn abbekommen hatte, war er nicht abgeneigt, mit Meyer anzubändeln. Daß Meyer ihn schnell abfertigte, war mehr Glück als Geschick oder Können. Rolfs Cousin glitt auf einem Blutstropfen aus, und Meyer erwischte ihn mit einem Streifschlag, der ihn zu Boden streckte, und mit diesem Sturz war der Kampf der beiden beendet.
Der nächste, Oswald, war zwar vorsichtig, grinste aber vor Übereifer. Er verwandte viel Zeit aufs Antäuschen und Ausweichen und duckte sich dann mit katzenhaften Sätzen unter Meyers Deckung. Diese Technik zielte darauf ab, Meyers Kraftreserven zu erschöpfen, ebenso wie vorher Meyer Gustav ermüdet hatte.
Angeline war gezwungen, dem erbarmungslosen Fortgang des Kampfes zuzuschauen, und wurde Zeugin eines ungewöhnlichen Wettstreits. Keiner der Männer, die sie bisher kannte, wäre fähig oder willens, einen glitschigen grünen Holzstock zu handhaben und sich damit zu verteidigen, erst recht nicht, jemanden anzugreifen oder zu besiegen. Die Gewandtheit und Geschicklichkeit von Rolfs Männern war das Ergebnis langer Übung. Diese Leute waren
Kampfmaschinen, und daher war die Methode, die sie gewählt hatten, um ihre Differenzen beizulegen, zwar barbarisch, aber durchaus korrekt.
Meyer hatte jetzt einen purpurroten Fleck auf der Wange, und aus einem Riß über einer Augenbraue rann ihm ständig Blut in die Augen. Oswald hatte ebenfalls etwas abbekommen. Ein Ohr war geschwollen, und auf der Brust hatte er einen langen Kratzer. In einem Hagel von Schlägen platzte ihm am Haaransatz die Haut auf. Seine Züge verzerrten sich vor Schmerz und Wut, und er stürzte sich mit einem Schlachtruf auf Meyer. Stäbe krachten aufeinander. Meyer steckte Oskar den Stock zwischen die Arme, schlug nach oben, und der lange, grüne Stab seines ihm an Gewicht unterlegenen Gegners flog durch die Luft.
Er wurde von seinem Zwillingsbruder aufgefangen, der das Hemd abstreifte und verbissen und feierlich auf Meyer eindrang. Im Unterschied zu Oswald bewegte sich Oskar kalkuliert. Jede Bewegung war präzise, ihre genau berechnete Kraft lag darin, daß sie auf einen bestimmten Punkt zielte. Er kam nie in Verlegenheit, schien sich auf den Gegner nicht einstellen zu müssen und nie aus dem Rhythmus zu kommen, wenn er einem Stoß auswich. Er selbst schien nie einen Schlag einstecken zu müssen, traf selber aber kräftig. Unter dem ersten Hieb, der ihn voll erwischte, taumelte Meyer. Dann kam der nächste. Wenn er ausgeruht gewesen wäre, hätte er Oskar wahrscheinlich durch sein bloßes Gewicht und seine Körpergröße überwältigt; aber so war das Ergebnis unvermeidlich.
»Genug.«
Wie von einem Bann erlöst, trat Oskar auf diesen Befehl hin zurück. Meyer, der sich gerade auf einen Schlag vorbereitete, hörte ihn nur durch einen Nebel. Er konnte sich nicht so schnell bremsen. Oskar versuchte noch, den Stock zur Abwehr zu heben, aber der grüne Stab des anderen sauste nieder. Es knackte. Oskar ließ die Waffe fallen und hielt sich das linke Handgelenk. Die Hand hing mit schlaffen Fingern in einem eigenartigen Winkel herunter.
Angeline sprang auf die Beine und stürzte auf ihn zu. Mit einem langen Schritt stand Rolf neben ihr. »Ein hilfreicher Engel wäre für Oskar vielleicht ein Trost, aber es besteht keine Notwendigkeit dazu. Meyer besitzt einige Fähigkeiten als Knochenverrenker und Quacksalber. Kommt, es ist Zeit, daß wir uns zurückziehen.«
Er packte sie mit festem Griff und schob sie zur Treppe. Sie wehrte sich. Scharf fragte sie: »Und wer kümmert sich um
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