Strom der Sehnsucht
ihretwegen hier, oder er verbarg seine Absicht ausgezeichnet. Er war nur gekommen, um der Königlichen Hoheit seine Aufwartung zu machen. Und Rolf hieß ihn in aller Liebenswürdigkeit in seinem Junggesellenhaushalt willkommen.
Mit grimmigem Lächeln richtete Angeline sich auf. Ihre grünen Augen waren dunkel. Wie dumm von ihr, auf Rettung durch einen einzelnen Mann oder überhaupt auf Hilfe zu hoffen. Von Rechts wegen hätte eine Kavalkade von Nachbarn vor das Haus reiten, die Tür einschlagen und Angelines Freilassung verlangen müssen. Wenn Andre, ihr Ritter und Kavalier, zu Besuch kam, die Gastfreundschaft des Prinzen annahm und sich an seinem Wein gütlich tat, konnte das nur eines heißen: Er wußte nicht, daß sie entführt worden war, und dachte nicht im Traum daran, daß man sie hier versteckt hielt.
Daraus folgte auch, daß sie für die Brechstange selbst sorgen mußte, wenn sie sich aus den eisernen Klauen Prinz Rolfs von Ruthenien befreien wollte.
Sie konnte Andre nicht in Gefahr bringen. Sie durfte nicht dadurch, daß sie ihn um Beistand bat, seinen Tod riskieren. Aber wenn es ihr gelang, aus dem Haus zu kommen und ungesehen eine Stelle des Weges zu erreichen, wo sie ihn abfangen konnte? Er mußte sie dann nur noch vor sich aufs Pferd nehmen, und sie konnten weit weg sein, bevor man ihre Abwesenheit bemerkte. Die Gelegenheit war günstig: Rolf mußte seinen Pflichten als Hausherr nachgehen, und Sarus servierte.
Sie holte ihren Umhang aus dem Schrank und nahm ihn über den Arm. Dann ging sie zur Tür. Ohne Zögern öffnete sie sie Zoll für Zoll. Der flackernde Kerzenschein hinter ihr drang in den düsteren Flur. Draußen war keine Schildwache zu sehen. Sie schob die Tür weiter auf. Vorsichtig machte sie einen Schritt, dann blieb sie stehen, während jeder ihrer Muskeln gestrafft war und ihr das Herz bis zum Halse schlug.
Gegenüber lag Meyers Schlafzimmer. Die Tür stand offen, und im Raum war es dunkel. Gegen die Fensterscheiben zeichnete sich die hohe, breitschultrige Gestalt eines Mannes ab, der mit gespreizten Beinen, die Hände auf dem Rücken, zum Fenster hinausblickte. Ein stiller Schatten in der Abenddämmerung. Offenbar sollte er Wache halten. Er paßte gerade nicht auf, aber das konnte sich im Nu ändern.
Ein behutsamer Schritt, noch einer. Als sie auf den Perserläufer trat, knarrte laut ein Dielenbrett. Sie blieb stehen und beobachtete angstvoll den Mann am Fenster. Ihr schien, als richte er sich lauschend auf, doch er rührte sich nicht von der Stelle und drehte nicht einmal den Kopf zu ihr herum. Mit angehaltenem Atem raffte sie die Röcke, damit sie nicht raschelten, und lief mit flinken, langen Schritten außer Sicht. Als kein Ruf hinter ihr laut wurde, schlich sie weiter zum Rückteil des Gebäudes und erreichte die Hintertreppe.
Gedämpfte Stimmen drangen zu ihr herauf. Tiefe Stimmen, die vom Vordereingang zu kommen schienen. Offenbar hatte sich Andre dem Prinzen nicht aufdrängen wollen, seinen Sherry hinuntergestürzt und war schon dabei, sich wieder zu verabschieden. Verständlich, aber äußerst ungelegen.
Angeline schlich hastig die hintere Treppe hinunter, erreichte den Abschlußpfosten im Erdgeschoß und umrundete ein Beistelltischchen mit Marmorplatte. Mit ihrem Mantel streifte sie ein silbernes Tablett mit Gläsern. Einer der Kelche wackelte, und Angeline mußte ihn auffangen, während die anderen musikalisch klirrten. Endlich kamen sie zur Ruhe. Angeline stand einen Augenblick wie angewurzelt da, dann atmete sie auf.
Am Hinterausgang blieb sie stehen und lauschte. Alles blieb still. Sie öffnete die Tür, trat über die Schwelle und schloß sie leise hinter sich. Noch ein paar Schritte, und sie war um die Ecke des Gebäudes und außer Sicht.
Dünne Nebelschwaden zogen herein, eine daunenweiche Feuchtigkeit, die auf der erhitzten Haut guttat und sich auf die Baumkronen legte. Große, schwere Tropfen fielen auf Angelines Kapuze und perlten ihr wie Juwelen über das Kleid.
Halb unter den Bäumen versteckt lagen zu ihrer Rechten Stall und Remise. Sie hörte Hufgetrappel auf der Auffahrt: Andre ritt davon. Jeden Moment konnte Rolf entdecken, daß sie geflohen war, und mit großem Geschrei hinter ihr hersetzen. Es mußte ihr gelingen, sich vorher einen Weg durch den Wald zu bahnen und die Biegung zu erreichen, wo Andre vorbeikam. Sie mußte es einfach versuchen.
»Hey!«
Dieser Ruf kam ganz aus ihrer Nähe. Angeline wirbelte herum und sah eine blauweiße Uniform im
Weitere Kostenlose Bücher