Strom der Sehnsucht
Euch revidieren. Ihr habt Rolfs Nachforschungen tapfer durchgestanden. Ich habe Männer gesehen, die beim Verhör zu schlotternden Feiglingen wurden und bereit waren, alles zu gestehen, nur um seinen quälenden Fragen zu entgehen. Ihr müßt stärker sein, als ich dachte, oder Rolf schwächer, und letzteres glaube ich nicht.«
»Ihr - jeder von Euch - sprecht von ihm, als sei er ein Halbgott. Warum sollte er nicht Schwächen haben wie andere Menschen auch?«
»Ja, warum nicht? Aber ich habe nie einen schwachen Punkt an ihm entdeckt, abgesehen vielleicht von der Sorglosigkeit, mit der er sich in Gefahr begibt, oder von seinem Hang, sich zu betrinken, um der eigenen Vollkommenheit zu entfliehen. Er ist der künftige König, wißt Ihr, und er muß in allem vollkommen sein, stark, mutig und allmächtig wie ein Gott.«
»Ist das nicht ein wenig viel verlangt?«
»Wie könnt Ihr das behaupten, wo Maximilian die Verkörperung dieser und anderer Eigenschaften war, und Rolf nun in seine Fußstapfen treten muß!«
»Das hört sich...«
»Bitter an?« fragte er. »Das geht vorüber. Das rutscht mir nur heraus, weil ich ihm heute morgen noch wegen der öffentlichen Bestrafung grolle. Wer sollte besser als ich die Fehler von Maximilian und Rolf kennen? Schließlich bin ich von ihrem Blut.«
Angeline hob den Kopf. »Ihr seid ein Verwandter?«
»Hat Euch das niemand erzählt? Es ist auch nicht wichtig, kaum der Erwähnung wert. Ich bin Rolfs Halbbruder, der Sohn eines Schankmädchens, und trage den Bastardbalken im Wappen. Meine Mutter wurde mit einem Adligen aus einem der ältesten Häuser Rutheniens verheiratet und für die Bequemlichkeit des gegenwärtigen Herrschers an den Hof gebracht. Rolfs Vater ist auch meiner.«
»Nein, davon hat mir niemand berichtet.« Als illegitimer Sohn war er von der Thronfolge ausgeschlossen und mußte sich, obwohl er vermutlich ein oder zwei Jahre älter war als Rolf, von seinem Halbbruder herumkommandieren und maßregeln lassen.
»Wie Ihr seht, habe ich das Recht, ihn zu beurteilen. Als wir bei Hofe aufwuchsen, Maximilian, Rolf, Leopold und ich, stand ich Max näher, vielleicht deshalb, weil wir etwa gleichaltrig waren und ein ähnliches Temperament hatten. Mir mißfällt im Augenblick nur Rolfs Art und Weise, Informationen zu sammeln, obwohl ich zugeben muß, daß ich seine... Übergriffe unter den gegenwärtigen Umständen zumindest zum Teil verständlich finde.«
»Ihr werdet mich nicht für unvernünftig halten, wenn ich erkläre, daß ich dieses Verständnis nicht aufbringen kann?«
Er schüttelte den Kopf. »Wenn es Euch Genugtuung verschafft, so möchte ich Euch versichern, daß Rolf höchstwahrscheinlich seine Handlungsweise bedauert. Er begeht selten Fehler, aber wenn ihm einer unterläuft, bezahlt er dafür, indem er sich selbst bestraft. So betrunken wie heute morgen habe ich ihn noch nie gesehen.«
»Warum läßt er mich nicht einfach gehen?« Die Worte sprudelten ohne weiteres Überlegen aus ihr heraus.
»Vielleicht tut er es noch.«
Es hatte keinen Sinn, weiter darüber zu sprechen. Um überhaupt etwas zu sagen, machte Angeline eine Bemerkung darüber, wie jung die Zwillinge noch seien.
»Ja, sie sind jung, aber sie sind schon mindestens zehn Jahre bei Rolf. Sie gehören ihm mit Leib und Seele, obwohl man glauben könnte, daß er ihr Eigentum sei, so sehr hängen sie an ihm.«
»Sie gehören ihm? Was wollt Ihr damit sagen?«
»Ihr Vater hat sie Rolf geschenkt. Er hat dem alten Herrn das Leben gerettet, als dessen Hof von Plünderern überfallen wurde. Es ist bei den Freisassen in Ruthenien üblich, einem Prinzen die jüngeren Söhne als Gegenleistung für einen Gunsterweis zu schenken. Sie waren als Leibdiener gedacht, aber Rolf wollte das nicht. Oskar und Oswald haben davon profitiert, denn sonst hätten sie ihre Tage mit der Beaufsichtigung der Bauern auf den Feldern und bei der Jagd verbringen müssen.«
»Oskar scheint kaum ein Mensch zu sein, der Krieg für einen lustigen Zeitvertreib hält«, sagte Angeline.
»Er betrachtet die Sache als gerechten Handel: Dafür darf er in Rolfs Bibliothek herumstöbern. Aber Ihr solltet ihn und Oswald in dieser Hinsicht nicht unterschätzen. In ihnen steckt ungestüme Kraft und tief verwurzelter Fatalismus. Ich weiß - und habe es am eigenen Leib erfahren -, daß jeder von ihnen für Rolf sterben oder töten würde, wenn er es für nötig hielte. Dieses Andenken stammt von Oskar.« Er berührte seinen Mundwinkel, der durch
Weitere Kostenlose Bücher