Studio 6
Eisenstäbe, weinte langsam und schweigend.
»Woher kanntest du sie?«
Annika fuhr hoch. Sie fuchtelte mit den Händen, stolperte auf dem Gras und landete schmerzhaft auf dem Steißbein, als sie wieder auf die Erde fiel.
»Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken.«
Die junge Frau, die gesprochen hatte, war verweint. Sie sprach mit einem leichten, aber deutlich hörbaren Akzent.
Annika starrte sie an.
»Ich … überhaupt nicht. Ich habe sie nie kennen gelernt.
Aber ich habe sie gesehen, als sie hier lag. Sie war tot.«
»Wo?«, fragte die junge Frau und kam einen Schritt näher.
Annika zeigte. Die Frau trat vor und betrachtete ungefähr eine Minute lang schweigend den Tatort. Dann setzte sie sich neben Annika ins Gras, drehte dem Friedhof den Rücken zu und lehnte sich an den Zaun.
»Ich habe sie auch gesehen«, sagte sie und spielte mit den Falten ihrer Bluse.
Annika wühlte in ihrer Tasche nach etwas, womit sie sich die Nase putzen konnte.
»Ich habe sie im Leichenschauhaus gesehen. Sie war es.
Sie war schön, unversehrt und schön.«
Annika hielt inne und starrte die Frau an. Mein Gott!
Das musste Josefines Mitbewohnerin sein, das Mädchen, das sie identifiziert hatte! Sie mussten wirklich enge Freundinnen gewesen sein.
Sie dachte an den Aufmacher des
Abendblatts
am kommenden Tag und wurde von einem plötzlichen und unerwarteten Gefühl der Scham erfasst. Sie musste wieder weinen.
Die Frau neben ihr schluchzte auch.
»Sie war doch wirklich lieb, nicht wahr?«, sagte die Frau. »Sie konnte superschlampig sein, aber sie hat nie jemandem etwas getan.«
»Ich habe sie nicht gekannt«, sagte Annika und putzte sich die Nase mit einem Blatt aus einem Notizblock. »Ich arbeite bei einer Zeitung, ich habe über Josefine geschrieben.«
Die Frau schaute Annika an.
»Jossie wollte auch Journalistin werden«, sagte sie. »Sie wollte über Kinder schreiben, die es schlecht haben.«
»Sie hätte eine Zukunft beim
Abendblatt
haben können«, sagte Annika.
»Was hast du geschrieben?«
Annika rang nach Luft, zögerte einen Moment. Alle Zufriedenheit über ihre Artikel war wie weggeblasen. Sie wollte am liebsten im Erdboden versinken und verschwinden.
»Dass sie auf dem Friedhof ermordet wurde«, sagte sie schnell.
Die Frau nickte und schaute weg.
»Ich habe sie gewarnt«, sagte sie.
Annika, die gerade das Blatt Papier zu einem kleinen Ball zusammenknüllte, hielt mitten in der Bewegung inne.
»Was meinst du damit?«
Die Frau trocknete sich die Wangen mit der Rückseite ihrer Hände.
»Joachim war nicht gut für sie«, sagte sie. »Er hat sie oft geschlagen. Sie konnte es ihm nie recht machen. Sie hatte immer überall Blutergüsse. Das hat Probleme bei der Arbeit gegeben. ›Du musst ihn verlassen‹, habe ich gesagt, aber sie konnte nicht.«
Annika hörte mit großen Augen zu.
»Meine Güte!«, sagte sie. »Weiß die Polizei davon?«
Die Frau nickte, nahm ein Taschentuch aus der Tasche der Jeansjacke und schnäuzte sich.
»Ich bin so allergisch«, sagte sie. »Hast du zufällig eine Teldane?«
Annika schüttelte bedauernd den Kopf.
»Ich muss nach Hause«, sagte die Frau und stand auf.
»Heute Abend werde ich wieder arbeiten, also muss ich erst mal ein wenig schlafen.«
Annika stand auf und klopfte ein wenig Gras von ihrem Rock.
»Glaubst du wirklich, dass ihr Freund es gewesen sein kann?«
»Er hat oft zu Jossie gesagt, dass er sie eines schönen Tages erschlagen werde«, erwiderte die Frau und ging zur Parkgatan hinunter.
Annika starrte durch den Zaun zu den Gräbern, doch diesmal mit einem völlig anderen Gefühl in der Magengrube. Ihr Freund! Da würde der Mord ja schnell aufgeklärt sein.
Plötzlich wurde ihr klar, dass sie nicht wusste, wie die junge Frau hieß.
»Hör mal, wie heißt du?«, rief sie ihr durch den Park nach.
Die Frau blieb stehen und antwortete:
»Patricia!«
Dann wandte sie sich um und verschwand in Richtung Fleminggatan.
Erst als Annika an der Tür zu ihrem Haus stand, erinnerte sie sich daran, dass sie versprochen hatte, Anne Snapphanes Katzen zu füttern. Sie überlegte kurz. Die Katzen würden wahrscheinlich überleben, die Frage war eher, ob sie selbst das schaffen würde, wenn sie nicht schnell etwas Schlaf bekam. Auf der anderen Seite war es wirklich nicht mehr als ein paar hundert Meter weit weg, und sie hatte es schließlich versprochen. Sie suchte in ihrer Tasche herum und fand ganz unten Annes Schlüssel, mit einem alten Kaugummi verklebt.
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