Stumme Zeugen
nicht da gewesen wäre. Dem Sheriff gegenüber hätte er sich vielleicht verständlich machen können, denn der gab offensichtlich nicht viel auf Fiona Pritzles Geschwätz.
»Wenn Sie nichts tun, rufe ich meine Bekannten von den Fernsehsendern an«, drohte Fiona. »Ich bin sicher, dass sie die neue Entwicklung äußerst interessant finden würden.«
Jess machte sich auf den Weg. Der Regel trommelte auf seinen Hut. Er wurde mit jedem Schritt wütender. Als er in seinem Pick-up saß, ließ er den Motor an und raste mit Vollgas die Straße herab. Es war ihm egal, ob ihn jemand sah oder hörte.
Sonntag, 18.56 Uhr
Jess sah J. J. durch die Tür des Gerichtsgebäudes. Wie üblich trug er den orangefarbenen Häftlingsoverall. Er sprühte das Treppengeländer mit Desinfektionsmittel ein und polierte das Holz auf Hochglanz. Jess klopfte an die Glastür. J. J. hob den Kopf, schaute aber in die falsche Richtung. Jess klopfte erneut, diesmal so heftig, dass seine Knöchel schmerzten. Der Kopf seines Sohnes fuhr herum, und seine Pupillen verengten sich. Etwas in seinem Blick erinnerte an einen Hund.
»Ich muss mit dir reden, J. J.«, rief Jess. Hinter ihm prasselte der Regen auf die Straße und die Bäume.
J. J. zuckte nur die Achseln, offenbar hatte er nichts verstanden. Aber er ließ sein Tuch fallen und kam langsam auf die Tür zu.
Seine Lippen bewegten sich. Verschlossen.
Wer hat einen Schlüssel?, fragte sich Jess. Er musste unbedingt mit seinem Sohn reden.
Er riss vergeblich an dem Türgriff, und J. J. schaute sich um, als rechnete er mit dem Ertönen der Alarmanlage. Dann schüttelte er den Kopf. Offenbar hatte er Angst, die Tür von innen zu öffnen.
Jess hob eine Hand. »Augenblick.« Er rannte zu seinem am Bordstein geparkten Pick-up und kam mit dem Gewehr zurück. Die Tür schien nur verriegelt zu sein. J. J. wich erschrocken zurück, als er die Waffe sah, mit weit aufgerissenen Augen.
Jess schlug mit dem Kolben eine der Scheiben ein. Es
wurde immer noch kein Alarm ausgelöst. Er griff durch das Loch, zog den Riegel zurück und öffnete die Tür.
Jess trat ein und ließ die Tür hinter sich zufallen. »Ich will dich nicht verängstigen«, sagte er zu seinem Sohn.
»Ich könnte Ärger bekommen.«
Jess bemerkte, dass die Stimme seines Sohnes deutlicher und dunkler klang als sonst. Er wusste, was das bedeutete. J. J. konnte für kurze Zeit klar denken. Es war schnell wieder vorbei.
»J. J., ich denke, du kannst mir helfen. Ich brauche deine Hilfe.«
»Du hast die Tür zerstört, Mann. Das gibt ganz schnell Ärger.«
»Sag ihnen, dass ich es war.«
J. J. nickte.
»Du machst einen guten Eindruck. Geht’s dir gut?«
»Nicht wirklich, nein.« J. J. schüttelte den Kopf. »Ich muss los, um meine Medikamente zu nehmen. Wie spät ist es?«
Jess blickte auf seine Armbanduhr. »Kurz vor sieben.«
»Ich bin spät dran und muss ins Gefängnis zurück. Sonst suchen sie nach mir.«
Jess versuchte, ruhig zu bleiben. Wenn es ihm gelang, stieg die Wahrscheinlichkeit, dass J. J. antwortete.
»Wenn die Wirkung der Medikamente nachlässt, gewinnt mein kranker Geist die Oberhand«, sagte J. J. »Ich sehe Dinge, von denen ich weiß, dass sie eigentlich gar nicht da sein können.«
»Ich weiß, mein Sohn.« Jess trat einen Schritt näher, und J. J. zuckte zurück. »Keine Sorge«, sagte er. »Ich werde dich nicht berühren.«
»Es geht nicht um dich, sondern um die Bazillen. Ich darf nicht dreckig werden wie die Böden hier. Ich schrubbe und schrubbe, aber die Leute machen sie jeden Tag wieder dreckig. Immer bringen sie neuen Dreck von draußen rein. Ich kann den Kampf nicht gewinnen.«
Jess atmete tief durch. Es gab ihm einen Stich ins Herz, dass er die klare Phase seines Sohnes für seine Zwecke ausnutzte. »Erzähl mir von den vier Excops. Du hast sie hier ständig gesehen. Sind es gute Menschen?«
»Nein«, stieß J. J. hervor, und Jess bekam ein bisschen Speichel ab.
»Sind sie ehrlich?«
»Nein!«
»Was hast du gehört?«
»Sie wollen diese Kinder finden.«
Jess zog eine Grimasse. Selbstverständlich wollten sie die Taylor-Kinder finden.
»Sie wollen ihnen etwas antun. Und sie haben Monica Schlampe genannt.«
»Monica Taylor?« Jess war überrascht. J. J. musste sie näher kennen, wenn er ihren Vornamen nannte. »Woher kennst du sie?«
J. J. lächelte, und es war ein düsteres, geheimnisvolles Lächeln, das Jess daran erinnerte, wie sein Sohn früher gewesen war. Ein gutes Omen war das nicht
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