Stumme Zeugen
gewartet. Ich schäme mich dafür.«
Jess blickte auf die Zufahrtsstraße, sah aber keine Scheinwerfer. »Das ist nicht nötig. Manchmal ist jeder wie gelähmt. Sehen Sie das Positive - vielleicht bekommen Sie eine zweite Chance und können alles richtig machen.«
Villatoro lächelte gezwungen. »So kann man es auch sehen.«
Montag, 2.30 Uhr
Monica Taylor fand Jess in der Scheune, wo eine Gaslaterne warmes, gelbliches Licht verbreitete. Er saß auf einem umgedrehten Eimer, mit der Winchester auf den Knien, vor einer hochgradig trächtigen Kuh, die mit gespreizten Beinen dastand, vor Schmerz zuckend. Sie hörte das flache Atmen des Tieres.
»Ich habe mich gefragt, wo Sie sein könnten«, sagte sie. »Als ich die Kinder ins Bett gebracht hatte, habe ich Sie in der Küche nicht gefunden. Dann sah ich das Licht in der Scheune.«
Sie trug eine dicke Arbeitsjacke, die immer im Vorraum hing und nach verbranntem Holz und Heu roch.
Jess blickte sie an. »Den Kühen ist es ziemlich egal, was in der Welt vorgeht oder in was für einem Schlamassel wir gerade stecken. Sie bekommen ihre Kälber, wenn es so weit ist, unabhängig davon, wie ich darüber denke oder ob ich sonst noch etwas zu tun habe.«
»Ich verstehe nicht, wie Sie sich jetzt darauf konzentrieren können.«
Jess zuckte die Achseln. »Wenn ich etwas Alltägliches tue, hilft mir das beim Denken.«
Monica trat näher und wickelte die Jacke wegen der feuchten Kälte fester um ihren Oberkörper. »Alles in Ordnung mit der Kuh?«
»Bei der hier mache ich mir Sorgen wegen einer Steißgeburt. Im letzten Jahr hatte sie eine, und deshalb befürchte ich, es könnte wieder passieren.«
»Wann ist es so weit?«
»Jeden Augenblick.«
»Und wenn es eine Steißgeburt ist?«
Er hielt einen langen Gummihandschuh hoch. »Dann muss ich da reingreifen und das Kalb umdrehen, damit es herauskommen kann. Klappt das nicht, muss ich es Stück für Stück herausziehen.«
Sie zuckte zusammen und nickte. Ihr Blick glitt von dem feuchten und entzündeten Geburtskanal der Kuh zu dem Gummihandschuh.
Er sah ihre Miene und las ihre Gedanken. »Keine besonders appetitliche Angelegenheit.« Er wies mit dem Kopf auf einen zweiten Eimer. »Setzen Sie sich doch, wenn Sie möchten. In der letzten Nacht hat Annie auf dem Eimer gesessen und sich die gleiche Prozedur angeschaut.«
»Annie hat der Geburt eines Kalbes zugesehen?« Sie trat noch einen Schritt näher. »Wie hat sie es aufgenommen? Sie hat mir nichts davon erzählt.«
»Sie ist ziemlich abgebrüht. Und ein gutes Kind, wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass ich so etwas sage.«
Monica lächelte und setzte sich. Der Eimer wackelte ein bisschen, und sie hielt sich kurz an seinem Arm fest. Ihr fiel auf, wie sich sein Körper angesichts der Berührung verkrampfte.
»Natürlich nicht, warum sollte es mir etwas ausmachen? Annie mag Sie sehr. Genau wie William. Er hat gesagt, Sie sollten bei uns leben, wenn diese Geschichte vorüber ist.«
Sie blickte ihn an, um seine Reaktion einzuschätzen, und wurde mit einem überraschten Blick belohnt, der sie fast zum Lachen gebracht hätte.
»Das hat er tatsächlich gesagt?«
»Ja. Als ich ihn ins Bett gebracht habe.«
Jess schüttelte den Kopf und schaute auf seine staubigen Stiefel. Monica konnte seine Gedanken nicht erraten, wusste nicht, ob er sich geschmeichelt fühlte oder erschrocken war.
Sie nahm all ihren Mut zusammen. »Worüber ich eben mit Ihnen reden wollte …«
»Ja?«
Sie atmete tief durch. »In meinem Leben hat es viele Männer gegeben, aber mir fällt keiner ein, der das getan hätte, was Sie getan haben.«
Er wollte ihr nicht in die Augen blicken, aber sie bemerkte, dass seine Ohren rot wurden.
»Mir würden schon zwei einfallen«, murmelte er. »Einer ist drüben im Haus, der andere reitet gerade in die Stadt.«
»Mir fehlen die Worte, um angemessen auszudrücken, wie sehr ich Ihr Verhalten zu schätzen weiß«, fuhr sie fort. »Sie haben alles für mich riskiert, obwohl Sie mich nicht einmal kannten. Annie und William haben in ihrem Leben noch nie einen Mann wie Sie kennengelernt.«
Er starrte weiter auf die Kuh. Die Ader an seiner Schläfe zuckte, und sie bemerkte, dass ihm Tränen in die Augen stiegen.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Mir geht’s gut.«
»Wie denken Sie über meine Worte?«
»Es ist sehr nett, mir so ein Kompliment zu machen.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Monica spürte, dass er noch etwas sagen wollte.
»Meine Frau
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