Stumme Zeugen
einem so angespannten Blick an, wie sie es zuvor noch nie bei ihm erlebt hatte.
»Dieser Junge war Jess junior.«
»Er hat mir erzählt, dass er Sie kennt.«
»Mehr hat er nicht gesagt?«
Jess schluckte. »Nur, Sie seien sehr temperamentvoll. Sie wollen mir doch nicht etwa erzählen, dass Annie meine Enkelin ist?«
Sie zögerte kurz.
»Nein. Annie ist Jim Hearnes Tochter.«
Jess war sprachlos.
»Jim war der Freund, der mich nach Spokane gebracht hat, als ich herausfinden wollte, was mit J. J. passiert war. Er war der beste Freund meines Vaters und hat wohl geglaubt, mir und Ihnen irgendwie verpflichtet zu sein. Aber es geschah etwas Unvorhergesehenes. Keiner von uns beiden hatte es geplant, und danach war Jim in einem schlimmen Zustand, weil er seine Frau mit der Tochter seines besten Freundes betrogen hatte. Er sagte, obwohl er seine Frau liebe, würde er sich scheiden lassen, wenn ich ihn wolle. Ich antwortete, er solle so etwas nie wieder sagen und zu Laura zurückkehren. Dass ich schwanger war, habe ich ihm nie erzählt. Ich habe ihn in dem Glauben gelassen, der Vater des Kindes - Annie - sei J. J., doch das stimmte nicht. J. J. bevorzugte den Coitus interruptus, im Gegensatz zu Jim. Also weiß ich hundertprozentig, wer ihr Vater ist. Manchmal glaube ich, dass auch er es weiß, aber er hatte die ganzen Jahre über zu viel Angst, um mich zu fragen. Falls Sie sich gefragt haben, warum unser Bankdirektor im Moment auf diesem Pferd sitzt, kennen Sie die Antwort jetzt vermutlich.«
»Mein Gott«, sagte Jess. »Nun ist mir klar, was Hearne mit seinen Worten sagen wollte.«
»Ich bin kein Opfer. Auch wenn es sich vielleicht so anhört, er hat die Situation nicht ausgenutzt. Ich wollte, dass er es mir besorgt, ich war damals so. Aber ich wollte weder ihn noch seine Ehe ruinieren, denn er ist ein anständiger Mann. Auch ich hatte ein bisschen Anstand. Und Annie ist so eine Freude für mich, so ein wundervolles Mädchen. Es ist ein Segen für mich, ihre Mutter zu sein. Und ein Glücksfall
der Natur, dass sie etwas so Besonderes ist, wahrscheinlich besser als ihr Vater und ihre Mutter.«
Sie versuchte zu erraten, was er dachte, hatte aber das Gefühl, dass er nicht richtig verarbeiten konnte, was sie ihm gerade erzählt hatte. Es war schwer zu entscheiden, ob er erleichtert oder enttäuscht war.
»So oft wollte ich es jemandem erzählen, habe es aber nie getan«, fuhr sie fort. »Vermutlich habe ich auf den richtigen Augenblick gewartet, der nie kam. Während meiner Ehe war es sinnlos. Mein Mann hat nie erfahren, wer Annies Vater ist, ich habe es vor ihm geheim gehalten. Deshalb ist es erstaunlich für mich, wie sich die Dinge entwickelt haben. Es kommt mir so vor, als hätte uns heute ein bestimmter Grund zusammengeführt, und deshalb musste ich es Sie wissen lassen.«
Er stand abrupt auf, mit einem traurigen Lächeln. »In gewisser Weise habe ich gehofft, Sie würden mir erzählen, ich hätte ein Enkelkind.«
»Tut mir leid.«
»Es spielt keine Rolle. Ich mag die beiden auch so sehr gern.«
Sie musste lachen. »Ich weiß nicht, wie viel Sie über mich gehört haben.« Sein Blick verriet ihr, dass er wusste, wovon sie sprach. »Aber ich habe mir während der letzten Tage immer wieder geschworen, dass in Zukunft meine Kinder zuerst kommen. Wenn diese Geschichte zu etwas Gutem geführt hat, dann dazu, dass ich diese Lektion gelernt habe. Keine Tom Boyds mehr, keine Jess juniors, keine Jim Hearnes. Und auch sonst niemand. Annie und William haben Vorrang. Ich habe es bei Gott geschworen.«
Er nickte. »Vermutlich eine weise Entscheidung.«
»Vermutlich eine weise Entscheidung«, äffte sie ihn gut gelaunt nach, was ihn erneut lächeln ließ. »Ja, es ist ein guter Vorsatz. Ich muss meinen eigenen Weg finden, ohne mich darauf zu verlassen, dass ein Mann die Dinge für mich regelt. Das ist doch möglich, oder?«
»Selbstverständlich. Man muss es versuchen.«
»Ich werde beweisen, dass es geht.« Sie legte eine Hand auf ihre Brust, als wollte sie einen Eid leisten. »Vielleicht muss ich mit den Kindern irgendwo hinziehen, wo niemand meine Vergangenheit kennt, aber ich werde beweisen, dass es möglich ist.«
Er zuckte zusammen, was sie überraschte.
»Was soll daran verkehrt sein?«
Er schlug den Blick nieder. »Nichts.«
»Was?«
Er schaute auf seine Stiefel, auf die Kuh, auf die dunkle Glühbirne, nur nicht in ihr Gesicht. Als er es dann doch tat, sagte er: »Wie immer diese Geschichte ausgeht, mir
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