Stumme Zeugen
würde es gefallen, mit Annie und William in Kontakt zu bleiben. Wir können ja so tun, als wären sie meine Enkel.«
Jetzt war sie sprachlos.
»In meiner eigenen Familie ist alles schiefgegangen. Wenn es mir möglich ist, würde ich Ihren Kindern gern helfen. Vielleicht auch, um den Schaden wiedergutzumachen, den ich hier angerichtet habe.«
Sie wischte ihre Tränen mit der umgeschlagenen Manschette der Arbeitsjacke ab und war überrascht, dass er noch etwas zu sagen hatte.
Er zeigte auf das offene Scheunentor. »Diese Ranch ist
das Einzige, das mich mit meinen Eltern verbindet und mit meinem Großvater, der sie gegründet hat. Sie haben sie mir vererbt, damit ich hart arbeite und sie an meine eigenen Kinder weitergebe, doch das wird nie passieren. Und es sieht nicht so aus, als könnte ich die Ranch überhaupt halten und sie jemandem vermachen. Die Grundstücks- und Immobilienmakler sind scharf darauf, und wahrscheinlich werden sie ihren Willen bekommen. Die Ranch gehört eher der Bank als mir. Also bleibt mir nichts, das ich weitergeben könnte. Ich werde in diesem Tal keine bleibenden Spuren hinterlassen. Aber wenn ich Annie und William helfen, ihnen vielleicht einen guten Start ins Leben ermöglichen könnte, wäre das schön. Es würde bedeuten, dass mein Leben einen Sinn hat, dass ich etwas verteidigen könnte. Und das allein zählt.«
Er wandte den Blick ab, doch seine Miene hatte ihr verraten, dass er glaubte, zu viel preisgegeben zu haben. Aber das stimmte nicht, und sie trat zu ihm, nahm ihn in den Arm und schmiegte ihr Gesicht an seinen Hals. »Sie sind ein anständiger Mann, ein sehr anständiger.« Sie meinte es ernst und empfand eine so große Zuneigung zu ihm, dass sie sich fragte, warum sie ihn nicht schon vor Jahren angerufen hatte, um sich nach J. J. zu erkundigen. Und sie musste daran denken, dass die härtesten Männer manchmal die sensibelsten waren.
Montag, 2.41 Uhr
Ein gutes Gefühl, wieder auf einem Pferd zu sitzen, dachte Jim Hearne.
Seit er den Wald am anderen Ende der Weide erreicht hatte, ritt er nur noch im Schritt, damit Chile ihre Kraftreserven schonen und sich vorsichtig den Weg durch das dichte Unterholz bahnen konnte. Da das Pferd in der Finsternis unter dem dichten Laubdach sehr viel besser sah als er, verließ er sich auf Chile, die vorsichtig einen Huf vor den anderen setzte und ihre Bewegungen gut koordinierte. Aber er ritt auch deshalb langsamer, weil er wusste, dass sie bald einen Stacheldrahtzaun erreichen würden, der das Grundstück der Rawlins Ranch von dem staatlichen Land abgrenzte, für das die Forstaufsicht zuständig war.
Die Stute war zielbewusst, und das gefiel ihm. Jetzt begriff er, warum Jess sie mochte. Am besten eignete sich Chile bestimmt als Cowboypferd, das Vieh bewachte, doch man konnte darauf auch gut nach Kootenai Bay reiten. Er war glücklich, ein Ziel zu haben. Vielleicht konnte er durch seinen Einsatz den Taylors, Villatoro und Jess das Leben retten. Es war das Mindeste, das er tun konnte. Und er war froh, dass er sich konzentrieren musste, denn so blieb keine Zeit, daran zu denken, dass die ganze verhängnisvolle Entwicklung durch seine Schuld ausgelöst worden war. Endlich tat er etwas Gutes, Richtiges, für Monica und Annie. Dieser Ritt war seine Art der Wiedergutmachung, und er musste lächeln.
Mittlerweile regnete es nicht mehr, die Geräusche des
Waldes waren wieder zu hören. Umherhuschende Eichhörnchen, das Knirschen von Tannennadeln unter Chiles Hufen, die verängstigte Flucht anderer Tiere, die er in der Finsternis nicht sah. Dass er auf dem Rücken der Stute saß, verband ihn mit der Erde, machte ihn zu einem Teil der Natur. Über das Vibrieren des Pferdekörpers spürte er, ob der Boden hart oder weich war. Dieses Gefühl der Verbundenheit hatte er vergessen, in einem Auto empfand man es nicht.
Würde es ihm gelingen, den Sheriff zu überzeugen? Vermutlich schon. Die bloße Tatsache, dass er zu Pferd in der Stadt auftauchte, musste Carey zu denken geben.
Er spürte, wie das Pferd zögerte, fühlte seine angespannten Muskeln unter seinen Oberschenkeln, und einen Augenblick später sah er durch die Bäume die vier Stacheldrahtstränge des Zaunes. Er ritt nach rechts weiter, den Hügel hinauf, am Zaun entlang, immer nach einem Tor Ausschau haltend. Wenn er keines fand, musste er auf den alten Cowboytrick zurückgreifen, die Drähte von einem Zaunpfahl zu lösen, sich darauf zu stellen und die Stute darüber zu locken - ein
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