Stumme Zeugen
Chile und Jess wussten, wo sie gehen mussten, er aber nicht.
Über ihnen bewegte sich ein Lichtstreifen durch die Baumwipfel.
»Was war das?«, fragte Villatoro.
Jess legte einen Finger auf die Lippen. »Scheinwerfer«, flüsterte er.
Sie blieben stehen und lauschten. Aus östlicher Richtung waren das Geräusch eines Motors und das Knirschen von Schotter unter Reifen zu hören. Kurz darauf quietschten Bremsen, der Motor heulte auf. Dann wurde er nach einem weiteren Quietschen abgestellt.
»Sie haben mein Tor blockiert«, sagte Jess.
In dem schwachen Mondlicht sah er, wie Villatoro verzweifelt sein Gesicht in den Händen begrub.
Sonntag, 23.59 Uhr
Villatoro und Hearne saßen am Küchentisch und tranken Kaffee. Auf dem Tisch lagen die Schrotflinte und eine Schachtel Patronen. Villatoro erzählte Hearne leise von den Ereignissen vor Swanns Haus, und der Bankdirektor blickte
immer wieder zu Jess hinüber, der an der Anrichte lehnte, Kaffee schlürfte und nur mit halbem Ohr hinhörte.
Annie und William schliefen auf dem Sofa im Wohnzimmer, beide unter der gleichen Decke. Ihre Mutter durchwühlte Jess’ Kühlschrank und Küchenschränke, wo sie nach Zutaten für eine Lasagne suchte, aber sie fand weder Nudeln noch Käse und gab auf. Sie sagte, sie wolle etwas kochen, weil sie zu nervös zum Schlafen sei.
»Jetzt passt alles zusammen.« Hearne lehnte sich zurück, als säße er in seinem Büro in der Bank. »Sie haben die Wetteinnahmen aus Santa Anita geraubt, alle fünf, und sind danach hierher gezogen. Dann hat Rodale Mist gebaut, und sie haben ihn ermordet. Annie und William waren zufällig Augenzeugen. Das hat die Ereignisse ins Rollen gebracht.«
Monica hatte sich entschlossen, einen Kuchen zu backen, und Jess beobachtete sie, als sie wieder und wieder die Zubereitungshinweise auf der Rückseite der Packung mit der Backmischung studierte. Er wusste, dass sie in Gedanken woanders war und sich nur beschäftigen wollte. Und wem stand jetzt schon der Sinn nach Kuchen?
Villatoro wandte sich Jess zu. »Was sollen wir tun? Diese Männer sind Mörder.«
»Der Sheriff hat mir erzählt, dass er den Fall an das FBI übergibt«, sagte Hearne. »Morgen früh werden sie hier sein. Wie Jess schon sagte, uns bleibt eigentlich nichts anderes übrig, als hier zu warten, bis wir unsere Geschichte erzählen können. Aber vermutlich sind diese Excops mittlerweile darauf gekommen, wo Sie sind und wer sonst noch hier ist.« Er wies in die Richtung der schlafenden Kinder. »Sie werden
sie - und uns - zum Schweigen bringen wollen, bevor wir reden können.«
Villatoro blickte auf seine Armbanduhr. »Ich wünschte, wir könnten jemanden anrufen.« Celeste musste eigentlich zu Hause sein, und sie konnte die örtliche Polizei bitten, Kontakt zum FBI oder zur Bundespolizei von Idaho aufzunehmen. Dann dachte er daran, Donna zu wecken und ihr zu erzählen, was passiert war. Aber sie wäre nur hysterisch geworden, und außerdem konnte sie ohnehin nichts tun. Und doch ist es wichtig, dachte er, sie wissen zu lassen, dass ich sie liebe. Sie immer geliebt habe.
»Ich wünschte«, sagte Jess, »ich würde die Namen der Excops kennen, die abgewiesen wurden, als sie sich als Freiwillige im Büro des Sheriffs gemeldet haben. Wahrscheinlich würden sie uns gern helfen. Meiner Meinung nach sind unter den Zugezogenen viele gute Menschen. Bestimmt wären sie ziemlich angewidert, wenn sie wüssten, was ihre ehemaligen Kollegen getan haben.«
Ihm fiel auf, dass Monica Taylor immer wieder ihn und Hearne anblickte, ganz so, als beschäftigte sie neben ihrem Kuchen noch etwas anderes.
»Haben Sie eine Idee?«, fragte Jess sie.
Sie schüttelte den Kopf. »Zu dem Thema nicht.« Dann blickte sie wieder Jess an. »Ich würde gern mit Ihnen reden.«
Jess war unbehaglich zumute, weil sie offenbar mit ihm allein sein wollte.
Was Hearne nicht entging, denn er sagte: »Entschuldigen Sie mich, ich möchte meine Frau anrufen und ihr sagen, dass ich in Sicherheit bin.«
»Gute Idee.« Auch Villatoro stand auf. »Wenn Sie fertig sind, rufe ich meine Kollegin Celeste und meine Frau an.« Sein Tonfall ließ den dahinterstehenden Gedanken unschwer erkennen. Für den Fall, dass wir uns nie wiedersehen.
»Wir können nach draußen gehen«, sagte Jess zu Monica.
Als sie in Richtung Haustür gingen, drehte sich Hearne um, mit dem Telefonhörer in der Hand. »Da ist kein Freizeichen.«
Jess erstarrte. Ihm war klar, was das zu bedeuten hatte.
»Sie haben die
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