Stumme Zeugen
als Suche nach zwei Vermissten. Die Angelrute hing in einem Busch, etwa hundert Meter vom Flussufer entfernt. Der Schuh wurde in einem Schlammloch weiter oben an einem Weg entdeckt, und er war leicht zu finden. Deshalb denken meine Deputys, dass derjenige, der den Schuh verloren hat - und wir glauben, es war Annie -, problemlos hätte kehrtmachen und ihn aus dem Schlamm ziehen können. Aber sie hat es nicht getan. Das deutet darauf hin, dass sie in Eile gewesen sein könnte. Dass sie vor jemandem weglief.«
Monica riss die Augen auf, ihr Atem ging abgehackt.
Carey zog eine Plastiktüte hervor und hob sie hoch. In ihr befand sich ein mit Schlamm verschmierter Schuh. Der Anblick lähmte sie, sie saß wie festgeklebt auf ihrem Stuhl.
»Der gehört Annie«, sagte sie kaum hörbar. »Vor wem sind sie weggerannt?«
Carey legte die Tüte mit dem Schuh auf den Tisch und
spreizte die Hände. »Das wissen wir nicht. Meine Männer haben Fußabdrücke im Schlamm gefunden, doch damit lässt sich nichts anfangen, weil es letzte Nacht geregnet hat. Aber wir suchen weiter, meine Leute kämmen die Gegend systematisch durch, Meter für Meter.«
Mit einem Schlag hatte sich ihre Welt weiter verfinstert. Während der durchwachten Nacht hatte sie sich vorgestellt, ihre Kinder hätten sich im Wald verirrt und würden sich im Regen aneinanderdrängen. Sie hatte gehofft, dass sie irgendwo Schutz gefunden hatten und intelligent genug waren, dort zu warten. Ihr war sogar der Gedanke gekommen, sie hätten in den Fluss gefallen und von der Strömung mitgerissen worden sein können. Aber sie hatte nie in Betracht gezogen, was der Sheriff jetzt andeutete. Dass ihre Kinder von jemandem verfolgt worden waren.
»Oh, nein …«
Sie starrte auf den verdreckten Schuh mit den zerrissenen Schnürsenkeln, ordentlich verpackt in einer Plastiktüte und doch ein Sinnbild der Gewalt.
Carey betrachtete sie eingehend. »Alles in Ordnung, Miss Taylor?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ganz und gar nicht. Sie sagen mir, dass jemand hinter meinen Kindern her war.«
»Noch wissen wir das nicht. Es ist eine Annahme, die auf sehr wenig Indizien beruht. Aber wir können es nicht ausschließen und müssen jede Möglichkeit bedenken. Vielleicht tauchen sie in ein paar Minuten wieder auf. Möglicherweise haben sie bei Freunden übernachtet.«
Wieder schüttelte sie den Kopf. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, sie bekam kaum Luft. Sie hatte einem Deputy die
Namen und Telefonnummern aller Freunde von Annie und William gegeben und selbst deren Eltern angerufen. Niemand hatte ihre Kinder gesehen.
»Ich muss Ihnen eine Frage stellen, Miss Taylor. Gibt es jemanden, der etwas gegen Sie oder Ihre Kinder haben könnte?«
»Ich verstehe nicht ganz.«
»Hat Sie jemand bedroht? Wiederholt belästigt? Wissen Sie, ob Ihre Kinder Probleme mit jemandem hatten, der versuchen könnte, sie zu verängstigen oder ihnen etwas anzutun? Sie haben doch beide einen anderen Vater, habe ich das richtig verstanden?«
Sie zuckte zusammen, als ihr bewusst wurde, wie das klang. »Ja. Aber sie kommen beide nicht infrage, wie Sie wissen.«
Williams Vater Billy war bei einem Häftlingsaufstand in der Idaho State Correctional Institution in Boise getötet worden. Monica hatte sich drei Jahre vorher von ihm scheiden lassen, als er vor Gericht stand, weil er in vier Labors synthetische Drogen zusammengebraut hatte - offenbar eine sehr viel lukrativere Einkommensquelle als sein in Schwierigkeiten steckendes Bauunternehmen. Obwohl die Ehe eigentlich schon anderthalb Jahre nach der Hochzeit zerrüttet war, hatte sie weitere zwei Jahre gedauert. Billy war zwar stolz darauf, einen Sohn zu haben, mochte William aber trotzdem nicht besonders. Auch er nannte ihn ein Muttersöhnchen, wie Tom. William hatte kaum eine Erinnerung an seinen Vater, doch manchmal redete er von ihm wie von einem mythischen Wesen. In seinen Augen glich er einem stoischen, legendären Outlaw aus dem Wilden Westen. Sie
tat nichts, um ihn in diesen Projektionen zu bestärken, hielt es aber auch nicht für sinnvoll, Billy vor William schlechtzumachen.
Annie dagegen wusste genau, was sie von Billy zu halten hatte, und rollte nur die Augen, wenn ihr Bruder seinen Vater schwärmerisch als Outlaw darstellte. Trotzdem hatte Billy weder William noch Monica je ein Haar gekrümmt, denn letztlich waren sie ihm einfach egal.
Bis vor einem Jahr hatte Annie geglaubt, Billy wäre auch ihr Vater, doch dann hatte sie zwei und zwei
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