Stumme Zeugen
zuhielt, um Boyds Schreie nicht zu hören.
Jim Hearne saß kerzengerade in seinem Bett, mit weit aufgerissenen Augen und mühsam atmend. Sein Herzschlag raste, was ihm schon immer Angst eingejagt hatte. Sein Vater
war mit achtunddreißig Jahren an einem Herzinfarkt gestorben, der aus heiterem Himmel gekommen war.
Er spürte Lauras kühle Hand auf seinem nackten Bauch. »Was fehlt dir, Jim? Ist alles in Ordnung?«
»Gleich …«, sagte er, nach Luft schnappend.
Er atmete tief ein, in der Hoffnung, dass sein Herzschlag sich verlangsamen würde. Er hatte versucht, die Gedanken an die Taylors, Jess und Villatoro zu verdrängen. Nach der Eröffnungsfeier hatte er sich stumpf damit beschäftigt, im Obstgarten mit der Kettensäge abgestorbene Äste abzusägen, die er dann hoch aufgestapelt und bei Sonnenuntergang verbrannt hatte.
Durch die körperliche Erschöpfung war er danach reif fürs Bett, aber vorher hatte er noch auf die Schnelle zwei weitere Drinks gekippt.
Doch in der Nacht waren die Gedanken zurückgekommen.
Sollte er bei Villatoro anrufen? Sich alles von der Seele reden? Seine Karriere riskieren?
Oder sollte er Singer anrufen und ihn auffordern, seine Konten aufzulösen und seine Geschäfte bei einer anderen Bank abzuwickeln? Versuchen, den Dreck an seinen Händen loszuwerden?
Aber es war ein ungünstiger Zeitpunkt. Im Augenblick war Singer in Kootenai Bay eine Art Held, der dem unfähigen Sheriff unter die Arme griff und die Suche nach den Taylor-Kindern leitete. Und Singer konnte Probleme machen, wenn ihm danach war. Überhaupt, was spielte es schon für eine Rolle, wenn Singer seine Konten auflöste und woanders neue eröffnete? Der Vorstand seiner Bank würde den
Verlust bemerken und Fragen stellen. Und wenn Singer jetzt seine Konten auflöste, änderte das nichts daran, dass sie ursprünglich mit seiner ausdrücklichen Zustimmung eröffnet worden waren. Genau das war das Problem.
Was habe ich da in Bewegung gesetzt?
Dritter Tag
Sonntag
Auf den ersten Blick scheint nichts weniger wichtig als das
äußere Erscheinungsbild menschlichen Handelns, und doch
legen alle auf nichts größeren Wert: Sie gewöhnen sich an alles,
nur nicht an das Leben in einer Gesellschaft mit fremden
Umgangsformen.
Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 1835
Sonntag, 2.18 Uhr
Die zweite Nacht war noch schlimmer. Monica Taylor hatte Beruhigungsmittel genommen, die ihrem seelischen Schmerz die Spitze nahmen, doch konnten auch die Pillen letztlich nichts an der bitteren Wahrheit ändern, dass ihre Kinder noch immer verschwunden waren.
Sie lag angekleidet in ihrem dunklen Schlafzimmer auf dem Bett und versuchte, nicht auf die Digitaluhr des Radioweckers zu blicken. Ihre Muskeln und Gelenke schrien nach Schlaf, doch es war weniger beunruhigend, mit offenen Augen in die Finsternis zu starren, als sie zu schließen und sich durch die Pillen begünstigten, entsetzlichen Albträumen zu überlassen, in denen Annie und William die schlimmsten nur denkbaren Dinge widerfuhren.
Wie viele Stunden? Sie wusste es nicht genau, fast vierzig. Vor einem Jahr hatte sie in der Zeitung einen Bericht über einen Dreijährigen gelesen, der von einem Campingplatz in der Nähe von Missoula verschwunden war. Drei Tage später wurde er auf einem Holzfällerweg gefunden, am ganzen Leibe zitternd, aber gesund. Er hatte Hagebutten gegessen und Wasser aus einem Bach getrunken. Drei Nächte, das war eine lange Zeit, doch der kleine Junge hatte überlebt. Annie und William waren intelligent. Die zweite Nacht war nicht einmal vorüber. Falls nötig, würden auch sie Hagebutten finden. Vielleicht entdeckten sie eine Blockhütte, oder sie würden sich selbst einen Unterschlupf bauen.
Irgendwie wusste sie, dass ihre Kinder noch lebten. Sie wusste es einfach.
Dann ließ sie vor ihrem geistigen Auge noch einmal den letzten Streit mit Tom Revue passieren, und das Knallen der Haustür klang in ihrer Erinnerung laut wie ein Schuss. Noch immer konnte sie nicht glauben, dass er etwas mit dem Verschwinden ihrer Kinder zu tun hatte, doch der Sheriff schien anderer Meinung zu sein. Wie hatte ihr entgehen können, dass Tom dazu in der Lage war, falls es stimmte? War er zu einer so teuflischen Tat fähig? Und falls er nichts damit zu tun hatte, warum war er dann spurlos verschwunden?
Wenn diese Geschichte überstanden war, wenn sie ihre Kinder in die Arme geschlossen und mit Küssen überhäuft hatte, würde sie jemanden anrufen. Es
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