Stumme Zeugen
war ein Anruf, der seit Jahren überfällig war, aber ihr hatten immer die Nerven gefehlt. Oder sie war nicht verzweifelt genug gewesen. Die Person, die sie anrufen würde, hatte ein Recht darauf, alles über ihre Kinder zu wissen. Aber nicht jetzt, es wäre ein unangemessener, fast grausamer Zeitpunkt gewesen. Sie würde warten, bis Annie und William wieder zu Hause waren. Sie werden zurückkommen, wiederholte sie in Gedanken immer wieder.
Sie setzte sich auf, hellwach und voller Sehnsucht, mit jemandem zu reden.
Sie schlich durch das Wohnzimmer, wo Swann unter einer leichten Decke auf der Couch schlief. Das Telefon steckte auf dem Tisch neben ihm in dem Ladegerät, und sie nahm es so leise wie möglich heraus und verschwand damit in ihrem Schlafzimmer.
Sie wählte und war nicht überrascht, als am anderen
Ende sofort abgenommen wurde. Ihre Mutter arbeitete in einer Bar in der Nähe des Flughafens und konnte gerade erst nach Hause gekommen sein.
»Ich bin’s, Mom, Monica.«
Schweigen am anderen Ende. Ein tiefer Zug aus einer Zigarette. »Ich bin nicht überrascht, dass du zu dieser späten Stunde anrufst.«
Monica stellte sich ihre Mutter in ihrem Schlafzimmer vor, in einem Bademantel auf dem Bett liegend, mit einem Scotch mit Eis auf dem Nachttisch. Bestimmt lief der Fernseher am Fußende des Bettes und zauberte ein Spiel von Licht und Schatten auf die Wände. Wahrscheinlich musste sie die Beine hochlegen, weil ihre Füße nach der langen Arbeit in der Bar geschwollen waren.
»Bist du allein?«, fragte Monica.
»Was für eine Frage ist das denn?«
»Ich möchte nur offen mit dir reden können.«
Das wurde von ihrer Mutter mit einem verbitterten Lachen quittiert. Ihrer Stimme hörte man an, dass sie jahrelang zu viel geraucht und getrunken hatte. Und zu viele Enttäuschungen erlebt hatte. »Ich sage, was mir gefällt und wann es mir gefällt. Es ist mir längst egal, was andere über meine Worte denken, oder ob überhaupt jemand zuhört. Das alles liegt hinter mir. Es ist eines der Privilegien des Alters, keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen. Schon möglich, dass ich nicht mehr gut aussehe und keine Altersversorgung habe, aber ich glaube, dass ich das Recht habe, Klartext zu reden - wann immer es mir gerade passt. Nach all den schweren Jahren hat man sich das verdient. Zu deiner Frage: Ja, ich bin allein.«
»Das war nicht immer so.« Monica sah vor ihrem geistigen Auge eine Heerschar von Männern vorbeidefilieren.
»Aber jetzt, meine Kleine.«
»Annie und William sind verschwunden, Mom.«
»Ich hab’s gehört. Auf dem Fernseher in der Bar habe ich die ganze Zeit ihre Fotos gesehen. Es ist eine verdammte Schande. Zuerst habe ich sie gar nicht erkannt.«
»Mom …«
Sie sprach leise, um den im Nebenzimmer schlafenden Swann nicht zu wecken. Außerdem presste sie das Telefon fest an ihr Ohr, weil die Stimme ihrer Mutter so laut, monoton und durchdringend war. Sie hätte gern gewusst, wie sich die Lautstärke des Telefons regeln ließ.
»Dieser Reporter, der mir die Drinks spendiert hat, wollte wissen, ob ich mit dir verwandt bin, weil ich Taylor heiße. Ich habe geantwortet: ›Sie war mal meine Tochter, jetzt ist sie es nicht mehr.‹«
Monica schloss die Augen. »Im Ernst, du hast nicht wirklich mit einem Reporter gesprochen, oder?«
Wieder ein langer Zug aus der Zigarette. Dann: »Zumindest nicht sofort.«
»Oh, nein. Was hast du ihm gesagt?«
»Dass ich dich seit Jahren aus den Augen verloren habe, Honey. Dass du mich vor die Tür gesetzt hast. Dass ich meine Enkel seit vier Jahren nicht gesehen habe.«
Der letzte Besuch ihrer Mutter war Monica gut in Erinnerung. Sie war betrunken gewesen und hatte sich von einem abgerissenen Kneipenhocker mit einem flachen Hut nach Kootenai Bay chauffieren lassen, der im Wohnzimmer stand und vergeblich darauf wartete, dass man ihm einen Platz
anbot. Ihre Mutter hatte sie im Beisein von Annie und William angepumpt, und währenddessen musterte der Kneipenhocker die achtjährige Annie mit lüsternen Blicken. Monica hatte beide hinausgeworfen.
»Ich habe ihm gesagt, dass solche Dinge nicht aus heiterem Himmel kommen und grundlos passieren. Vielleicht sieht es so aus, aber es stimmt nicht.«
»Wovon redest du?«
»Wahrscheinlich hast du es selbst heraufbeschworen durch deine Einstellung und deine verdammte Hochnäsigkeit. Mit was für einem Mann bist du übrigens im Moment zusammen?«
Monica war sprachlos.
»Dein Daddy hat dich immer für eine kleine
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