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Stummer Zorn

Stummer Zorn

Titel: Stummer Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlaine Harris
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nicht in diese triste Richtung zu denken. Wollte ich es Cully etwa übelnehmen, daß er nicht Gefahr lief, vergewaltigt zu werden?
    Zurück zur Frivolität. Vielleicht sollte ich lesbisch werden. In New York hatte ich viele Frauen gekannt, die aufs eigene Geschlecht standen, zumindest gelegentlich. Aber die Vorstellung hatte mich nie angesprochen, nicht einmal, wenn ich wegen einer gescheiterten Beziehung deprimiert gewesen war. Ich stellte mir vor, wie ich in die Küche spazierte und Mimi anbaggerte und mußte über ihren imagi-nierten Gesichtsausdruck lachen.
    Sie hörte mein Kichern. „Was ist denn so lustig?" rief sie genervt aus der Küche herüber.
    „Nichts!" Irgendwann, wenn sie sich keine Sorgen über Salbei und Geflügelgewürze machte, würde ich es ihr erzählen. Ich fühlte mich nicht ganz wohl dabei, zu einer Party eingeladen zu sein, zu der Mimi keine Einladung hatte; aber sie hatte fast schon zu vehement gesagt, sie wäre ohnehin nicht hingegangen. Ich hatte die Brauen hochgezogen.
    „Ich habe den Kerl nur einmal getroffen und mochte ihn nicht", sagte sie lahm, „und seine Frau erst!"
    Aha. „Was ist mit ihr?"
    „Ich hasse sie", hatte Mimi zu meiner Überraschung geantwortet.
    Als Antwort auf mein Starren war sie mit der Geschichte herausgerückt, daß die Frau ein Foto ihres Vaters im Sarg auf dem Nachttisch stehen hatte.
    Woher um alles in der Welt wußte Mimi das? Etwas in ihrem Gesicht hatte mich davor gewarnt, die Frage zu stellen. Aber ich hatte ihr erzählt, wie ich einmal in New York mit dem Fotografen, der gesagt hatte, meine Augen seien wie Opale (wofür ich ihn immer lieben werde), etwas trinken gegangen war. Nach mehreren Whiskys hatte er mir gestanden, daß er in der Anfängszeit seines eigenen Fotostudios so Geld verdient hatte. „Du wärst überrascht", hatte er mir ernsthaft mitgeteilt, „wie viele Leute Fotos ihrer Lieben in der Kiste haben wollen." Dann hatte er mich schwören lassen, seinen früheren Nebenverdienst geheimzuhalten.
    Über diese seltsame Geschichte grübelte ich nach, während ich die Kosmetikrolle mit meinem Pinselarsenal entrollte. Ich kam zu der Erkenntnis, daß wir alle unsere Leichen mit uns herumschleppten. Meine zukünftige Gastgeberin trug ihre eben nur offen und für jeden sichtbar.
    Nickie, die Philosophin.
    Mein linkes Nasenloch ist ein wenig größer als das rechte. Ich korrigierte das kosmetisch. Nachdem das Kunstwerk vollendet war, glitt ich in einem Morgenmantel, den ich mir für besondere Gelegenheiten aufgehoben hatte, einem wunderschönen, dünnen, aufreizenden Ding, in die Küche hinaus. In dem großen Raum herrschte Chaos. Mimi war entschlossen, unser Thanksgiving-Essen komplett und traditionell zu gestalten. Sie hatte alle Gewürze aus der Schublade geholt, um sofort auf alles Zugriff zu haben. Auf der Arbeitsplatte türmten sich Süßkartoffeln, und der Truthahn thronte zum Auftauen im Spülbecken.
    Attila pirschte am Rande dieses Beutestücks auf und ab und hoffte, einen Bissen erhaschen zu können. Mao lag zusammengerollt auf der Mikrowelle und starrte den Truthahn an, als sei er ein lebender Vogel, dem er auflauerte. Mimi zerbröselte mit schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck das noch dampfende Maisbrot. Sie funkelte mich an, als ich den Kühlschrank öffnete.
    „Aber betrink dich heute abend nicht, Nick, hörst du? Du darfst morgen keinen Kater haben. Sonst ißt du wieder nichts."
    "Alles klar, Mimi", sagte ich lammfromm. „Darf ich jetzt ein belegtes Brot haben?"
    „Ja, Ma'am", antwortete sie und grinste plötzlich. Die alte Wärme war wieder da. „Ich schätze, du findest hier irgendwo was zu essen."
    „Was wurdest du empfehlen?" fragte ich ernst. „Die Erdnußbutter mit Marmelade oder den restlichen Hackbraten?"
    „Oh Mann, ein Hackbratensandwich. Mach mir auch eins, ja? Mach's in der Mikrowelle warm, mit ganz viel Käse."
    Ich begann, im Kühlschrank herumzustöbern. Es würde möglicherweise Stunden dauern, den Hackbraten zu finden, so vollgestopft war er. „Man könnte meinen", murmelte ich, „wir erwarten eine Armee, nicht nur uns beide und Barbara."
    „Na ja ... Charles kommt auch."
    Ich erstarrte, obwohl meine Hand endlich auf den Frikadellen ruhte. Ich spürte die Anspannung, die von Mimi ausging. Sie dachte, ich mache mir immer noch Sorgen, weil sie Charles in Schutz genommen hatte, aber in Wirklichkeit bemühte ich mich, ein geistiges Schubfach zuzuknallen, in dem sich gerade ächzend eine Leiche geregt hatte.

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