Sturm der Seelen: Roman
schlagen hören konnte und endlich fand, wonach er suchte. Er hatte bereits durch die Augen von Pest und Hunger einen Blick darauf geworfen, aber dieses Wunder wollte er mit eigenen Augen sehen.
Noch bevor er die Tür zu der unterirdischen Kammer erreichte, hörte er schon ihren schweren, rasselnden Atem. Seine Mitstreiter und Wegbereiter der Apokalypse arbeiteten seit Tagen hier unten. In vollkommener Abgeschiedenheit erschufen sie im Schein der Fackeln die bösartigsten Kreaturen, die jemals einen Fuß auf das Angesicht der Erde setzen würden. War er etwa zu weit gegangen in seinem Bestreben, den Herrn zufriedenzustellen und dafür zu sorgen, dass diejenigen, die den Ansturm des Schwarms überlebten, der zweiten Welle Seines Hasses zum Opfer fielen? Widersetzte er sich damit Seinem Willen? Ein genauso beängstigender wie befreiender Gedanke. Gott hatte ihnen die Macht gegeben, den Schwarm zurück ins Leben zu rufen, und jetzt gingen sie von sich aus den nächsten Schritt. Doch wenn dies tatsächlich Sein Wille war, hätten sie jene Geschöpfe dann nicht von vornherein erschaffen müssen? Und wenn es wiederum nicht Sein Wille war, so hatte Er sie aber auch nicht daran gehindert oder sie gar selbst vernichtet. Bedeutete dies, dass sie nun frei waren von Seiner Macht, unabhängig von seinem Willen? Hatte Er sie ohne Leine auf die Erde losgelassen? Konnten sie ihren Willen walten lassen, vollkommen unabhängig von dem, was Er wünschen mochte?
Waren sie frei?
Moskitos flogen auf von Leichen und Wänden und umschwirrten Tod, ihren Herrn, hießen ihn mit dem Summen ihres Flügelschlags willkommen. Pest öffnete ihren Mund und saugte sie wieder hinein in ihren zierlichen Körper, dessen Pergamenthaut raschelte, als könne er dem Druck der Myriaden von Insektenhüllen in seinem Inneren nicht länger standhalten und würde jeden Moment zerreißen. Pest stand über einen langen Tisch gebeugt, auf dem jenes Geschöpf lag, das einmal ein Mensch gewesen war, seine Haut braun und klebrig von dem Speichel der Heuschrecken. Hunger, der mit seinen blinden, weißen Augen den gesamten Raum auf einmal sehen konnte, stand hinter ihr. Auch unter seiner Haut zeichnete sich das Gewimmel seiner Insektenheerscharen ab.
Wortlos tauschten sie Blicke aus. Sie dachten dasselbe: Dies war der Eine. Die Krönung all der grausamen Experimente, denen sie ihre Opfer unterzogen hatten. All die zerfetzte Haut, die Schreie Gepeinigter, all dies lief zusammen in dieser einen Schöpfung, die, trotz all der Schmerzen, die sie zweifellos ertragen musste, mit weit aufgerissenen Augen dalag, mit kupfernen Spießen aus Rohrleitungsmaterial festgenagelt auf seiner Folterbank wie ein Schmetterling auf einem Schaubrett.
Es stieß ein markerschütterndes Brüllen aus, und seine Muskeln spannten sich unter der ledrigen, fledermausflügelartigen Haut, während es an seinen Fesseln riss. Grobes, langes schwarzes Haar wuchs in Büscheln aus seinen Schultern, und ein breiter Streifen davon zog sich von seiner Stirn über seinen Rücken bis hinunter zum Steißbein. Sein weit aufgerissenes Maul reichte beinahe von einem Ohr zum anderen, teuflisch scharfe Zähne blitzten darin auf, in mehreren Reihen standen sie hintereinander wie bei dem Gebiss eines Hais. Seine Augen sahen aus wie stumpfe, schwarze Kohlen. Mit ihnen konnte es gerade einmal die Umrisse seiner Schöpfer erkennen, was auch vollauf genügte, denn es orientierte sich nicht anhand von Lichtwellen, sondern mit Sonar, wenn auch nicht mit unhörbaren Ultraschallimpulsen wie bei seinen geflügelten Verwandten, sondern mit einem kehligen Brüllen, das den Staub von der Decke rieseln ließ und in seinem Geist ein gestochen scharfes Bild von seiner Umgebung zeichnete.
Tod nickte zufrieden und ging ans andere Ende des Tisches, wo das Monster einen der Kupfernägel mit seinen Fingern umklammert hielt, um ihn herauszuziehen und seine Hand freizubekommen. Er bog einen der Finger auf, sodass die gekrümmte Klaue daran senkrecht nach oben zeigte, dann spannte er seine eigene Hand auf und presste sie auf die Kralle. Er spürte so gut wie keinen Schmerz, als die Klaue seine Handfläche und den dicken, harten Schuppenpanzer darüber mühelos durchbohrte. Dies war eine Spezies, wie die Erde sie noch nie gesehen hatte: perfekte Jäger, die ihre Beute in der schwärzesten Nacht und durch dichtesten Rauch hindurch erspähen konnten, um dann in einem ungleichen Kampf kurzen Prozess mit ihr zu machen. Wie stark die Kreatur
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