Sturm im Elfenland
»Du kannst ihm ja erzählen, dass du es draußen irgendwo gefunden hast.«
»Das glaubt er mir nie.« Alana drückte das Buch an die Brust. »Nicht, wenn ich ihn bitte, Sverre zu helfen. Außerdem brauche ich dafür dieses Buch ja noch.«
»Und warum sollte er uns helfen?«, fragte sich Garnet, die ebenfalls zu zweifeln begann. »Er wird es sich nicht mit deinem Vater verderben wollen. Das war eine dumme Idee von mir, Alana.«
»Nein, war es nicht. Ich gehe zu ihm. Ich muss ihm ja nicht erzählen, dass ich Sverre befreien will. Es reicht, wenn er mir etwas zum Zauber mit kaltem Eisen erzählt«, erklärte Alana und drückte ihrer verdutzten Freundin das eingewickelte Buch in die Hände. »Verwahre es für mich, ja? Versteck es irgendwo im Stall. Wir sehen uns nachher.«
»Was hast du vor?«
»Ich frage ihn, ob er weiß, wo Ivaylo ist. Und dann versuche ich das Gespräch auf Feensilber und kaltes Eisen zu bringen.« Alana schob Garnet sacht in Richtung Stall. »Versteck das Buch. Ich will nicht, dass irgendwer es findet.«
Garnet hielt das Buch ein wenig von sich weg, als wäre es ein bissiges Tier. »Sei vorsichtig«, sagte sie.
Alana lachte sie aus. »Was soll denn passieren?«, fragte sie vergnügt. »Ich rede jeden Tag mit Erramun.«
»Ja, aber das hier ist ... Zauberei«, sagte Garnet. »Du willst etwas tun, das dein Vater nicht gutheißen wird.«
Alana biss sich auf die Lippen und zuckte dann gespielt gleichmütig mit den Achseln. »Was soll mir denn passieren? Wenn ich Pech habe, schimpft er mich nur aus.«
Garnet sah nicht sehr überzeugt aus, aber sie nickte ergeben.
Mit weitaus weniger Zuversicht, als sie Garnet gegenüber an den Tag gelegt hatte, betrat Alana die Bibliothek. Erramun, der umringt von Bücherstapeln am Fenstertisch saß und sich Notizen machte, blickte nicht auf und gab auch nicht zu erkennen, dass er ihr Eintreten bemerkt hatte. Alana stand eine Weile unschlüssig da und betrachtete den Lehrer. Er hatte die Brauen voller Konzentration zusammengezogen, was ihm einen ärgerlichen Ausdruck verlieh. Sein Haar, straff zurückgekämmt und in einen Zopf gebunden, leuchtete im Licht der untergehenden Sonne wie Herbstlaub.
Alana legte nachdenklich den Kopf auf die Seite. Erramun war ihr immer als der ansehnlichste Elf erschienen, den sie je zu Gesicht bekommen hatte. Aber jetzt verblich seine herbstfarbene, katzenschöne, geschmeidige Erscheinung gegen den eishellen und rabengefiederschwarzen Kontrast, den Ivaylos Augen und Haare bildeten, und das trotzig-ernste, gleichzeitig Zorn und dunkle Trauer ausstrahlende Wesen des jungen Elfen.
Alana holte unwillkürlich tief Luft, und das weckte den Lehrer aus seiner Konzentration. Er sah sie an, ferne Kälte in seinem Blick, doch dann kehrten seine abwesenden Gedanken in das Hier und Jetzt der Bibliothek zurück. Er erkannte Alana und lächelte sie an.
»Darf ich dich stören?«, fragte sie.
Er zögerte, dann schob er das Buch beiseite, aus dem er sich gerade etwas notiert hatte, legte die Feder hin und wies auf den Stuhl an seiner Seite. »Was kann ich für dich tun, Alana?«
Sie setzte sich und legte ohne es zu merken die Hand über ihren Sternenstein. Ein Gefühl der Dringlichkeit und Gefahr ging von ihm aus, das ihr Herz schneller schlagen ließ.
»Erramun, weißt du, wo Ivaylo ist?«, fragte sie rundheraus.
Der Lehrer sah sie regungslos an. Einen Moment lang glaubte Alana, er wäre wieder weit fort in Gedanken. Er rieb, wie immer, wenn er nachdachte, mit dem Daumen gedankenverloren über seine Handfläche, dann zuckte er zusammen und barg die Hand an der Brust, als wäre sie verletzt.
»Ivaylo«, wiederholte er. Also hatte er ihr doch zugehört. »Er ist fort.«
»Fort?«
Erramun zuckte zusammen. »Du musst nicht gleich schreien«, rügte er sanft. »Ja, er ist fort.«
»Aber, aber ...« Alana fühlte sich betäubt, als hätte sie eine feste Ohrfeige bekommen. »Aber wie ist das möglich? Wieso kann er einfach so fortgehen und wohin? Warum holt ihn niemand zurück? Wissen meine Eltern überhaupt Bescheid?«
Erramun runzelte die Stirn. »Wird das ein Verhör?«, fragte er mit deutlichem Tadel in der Stimme.
Alana holte tief Luft. »Entschuldige«, sagte sie mühsam beherrscht, denn am liebsten hätte sie auf den Tisch geschlagen oder Erramun geschüttelt. Wie konnte er nur seelenruhig dasitzen und ihr erzählen, Ivaylo sei fort?
»Alana«, Erramun redete ihr zu wie einem scheuenden Pferd. »Ivaylo ist alt genug, um selbst
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