Sturm: Roman (German Edition)
in den Berg eindringen und hätten sich hoffnungslos verirrt. Immer wieder musste er an die Gesichter der beiden Männer denken. Er hatte in Ego-Shooter-Spielen schon so manchen Gegner erledigt und dabei die eine oder andere grafische Darstellung sogar als ein bisschen zu realistisch empfunden, aber die Wirklichkeit war viel, viel schlimmer. Zwei Menschen waren auf barbarische und doch fast beiläufige Weise von ihm getötet worden. Warme, lebendige Körper, die von Kugeln zerfetzt wurden, hatten nicht das Geringste mit irgendwelchen Computer- oder Konsolenspielen zu tun.
»Hier.« Noah blieb stehen. Der Strahl der Taschenlampe huschte über schroffe Felsformationen. »Hier muss es irgendwo sein.«
Dirk wankte ein paar Schritte weiter und hielt dann ebenfalls inne. Sein Blick folgte dem Lichtkegel. Er konnte keinen Gang oder Durchschlupf erkennen und schon gar keine neue Höhle. Für ihn sah es aus, als wären sie in eine Sackgasse geraten.
»Was meinst du?«, krächzte er.
»Ich rede von Akuyi. Sie muss ganz in der Nähe sein.«
Seine Worte drangen mit einiger Verspätung in Dirks Bewusstsein. »Ganz in der Nähe?« Dirk drehte sich schwerfällig um und sah Noah an. Der Junge wirkte erschöpft. Doch es war wohl nicht die körperliche Erschöpfung, die dunkle Ringe unter seine Augen gemalt hatte, sondern vor allem der Tod seines Großvaters, der Sturm und die beiden erschossenen Männer. »Wie kommst du darauf?«
Noah strich sich die Haare aus der Stirn. »Wäre doch bloß Shimeru hier!«
»Das ist er leider nicht.« Dirk räusperte sich. Sein Mund war staubtrocken, und seine Kehle fühlte sich rau und wund an. Es war lange her, dass er etwas gegessen und getrunken hatte.
»Ja, leider … Shimeru hätte gewusst, was zu tun ist.« Noah deutete nach vorne. »Ich sehe noch nicht einmal einen schmalen Spalt, durch den wir uns quetschen könnten. Aber irgendetwas muss doch hier sein!«
»Warum?« Dirk riss sich zusammen, um nicht zu schreien. »Warum muss da vorne irgendetwas sein?«
Noah fuhr sich immer noch durch die Haare, obwohl er seine zerzausten und verklebten Strähnen bereits so gut geordnet hatte, wie es ohne Kamm und Bürste überhaupt möglich war.
»Akuyi ist hier«, flüsterte er.
Das Bild der Toten vor Dirks innerem Auge verblasste. Stattdessen sah er seine Tochter vor sich, wie sie ihm am Frühstückstisch lachend, schmollend oder gelangweilt gegenübersaß – alltägliche Szenen aus einer vergangenen Epoche, die vielleicht nie wieder aufleben würde. »Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß nicht.« Noahs Stimme stockte. »Shimeru hat mich gelehrt, auf mein Gefühl zu hören. Er hat gesagt, ich müsste es von all den Eindrücken trennen, die ständig auf uns Menschen einstürmen. Was übrig bliebe, wäre das ehrliche, nackte Gefühl. Und durch das Erbe unserer Ahnen könnten wir weitaus mehr spüren als normale Menschen.«
»Gut«, knurrte Dirk ungeduldig. »Und was heißt das?«
»Ich bin weit davon entfernt, ein Schamane zu sein«, antwortete Noah. »Aber trotzdem spüre ich einfach, dass Akuyi in der Nähe ist!«
Dirk atmete tief durch. »Okay. Wenn du das spürst, sind wir einen Riesenschritt weiter.« Hoffentlich, ergänzte eine böse Stimme in seinem Kopf, denn sonst ist alles verloren. »Also sollten wir uns umsehen, ob wir hier nicht doch irgendwo weiterkommen.«
Noah nickte. »Ja, du hast recht.« Er setzte sich sofort in Bewegung und ließ den Strahl der Taschenlampe über den steinigen Boden und die zerklüfteten Wände wandern. »Vielleicht ist sie näher, als ich dachte. Vielleicht liegt sie hier irgendwo.«
Dirk starrte ihm fassungslos nach. Liegt hier irgendwo? Was zum Teufel meinte er damit? »Wie geht es ihr?«, fragte er.
»Was?« Noah zwängte sich an einem gewaltigen Felsbrocken vorbei, der den Weg versperrte.
»Lebt sie? Ist sie verletzt? Geht es ihr gut?« Dirk folgte seinem Sohn. »Du musst doch irgendetwas spüren!«
»Natürlich lebt sie.« Noah duckte sich unter einem Überhang und richtete sich dahinter wieder auf, sodass Dirk nur noch seine Beine sah. »Sie ist in der Gewalt von … starken Emotionen.«
Starken Emotionen? »Mein Gott«, murmelte Dirk, zog den Kopf ein und tauchte ebenfalls unter dem Überhang durch. »Hat sie Angst?«
»Möglich. Und das wäre sogar gut. Menschen, die Angst haben, sind viel leichter aufzuspüren als andere.«
Noah sagte das vollkommen kühl und sachlich.
»Und wie viele Menschen hast du schon auf diese Weise
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