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Sturm ueber roten Wassern

Sturm ueber roten Wassern

Titel: Sturm ueber roten Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Lynch
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kurz ins Auge, dann schnaubte er durch die Nase. »Zur Hölle mit dir«, grollte er und hob seine Armbrust mit beiden Händen an. Der Schuss war perfekt; man hörte einen satten Knall, und der junge Bursche kippte mit einem gefiederten Bolzen in der Brust um. Er fiel auf den Rücken, krallte die Finger in seinen Rock und die Tunika und spuckte dunkles Blut. Ein halbes Dutzend Zuschauer rannte zu ihm, während eine junge Frau in einem silbernen Abendkleid auf die Knie sank und hysterisch kreischte.
    »Wir kommen gerade rechtzeitig zum Dinner zurück«, sagte der ältere Duellant zu niemand Besonderem. Achtlos schleuderte er seine Armbrust hinter sich auf den Boden und stapfte davon in Richtung eines der nahe gelegenen Spielkasinos, begleitet von seinem Sekundanten.
    »Beim Arsch des Perelandro«, hauchte Locke, einen Moment lang Leocanto Kosta vergessend und seine Gedanken laut äußernd. »Was für eine Art, die Dinge zu regeln.«
    »Gefällt sie Ihnen nicht, Sir?« Eine bildhübsche junge Frau in schwarzer Seidenrobe betrachtete Locke mit einem unangenehm stechenden Blick. Sie konnte nicht älter sein als achtzehn oder neunzehn.
    »Ich sehe ein, dass gewisse Meinungsverschiedenheiten mit Stahl ausgetragen werden müssen«, mischte sich Jean ein, der offenbar begriffen hatte, dass Locke immer noch ein bisschen betrunkener war, als ihm guttat. »Aber sich vor einen Armbrustbolzen zu stellen erscheint mir töricht. Bei einem Fechtkampf scheidet sich eher Spreu von Weizen, da zeigt sich, wer tatsächlich etwas leistet.«
    »Rapiers sind langweilig; all das Vor- und Zurückgerenne, und nur selten kommt es rasch zu einem tödlichen Stoß«, meinte die junge Frau. »Ein Armbrustbolzen ist schnell, sauber und gnädig. Mit einem Rapier können die Leute die ganze Nacht lang aufeinander herumhacken, ohne dass jemand zu Tode kommt.«
    »In dem Punkt gebe ich Ihnen recht«, murmelte Locke.
    Die Frau lupfte eine Augenbraue, erwiderte jedoch nichts; kurz darauf war sie verschwunden, in der sich verlaufenden Menge untergetaucht.
    Die nächtlichen Geräusche der Zufriedenheit – das Lachen und Plaudern der kleinen Grüppchen von Männern und Frauen, die draußen unter dem gestirnten Himmel frische Luft schöpften – waren während der Dauer des Duells verstummt, doch nun erklangen sie wieder. Die Frau in dem silbernen Kleid schluchzte und trommelte mit den Fäusten auf das Gras, während die Leute, die sich um den gestürzten Duellanten drängten, gleichzeitig zusammenzusacken schienen. Offenbar war soeben der Tod eingetreten.
    »Schnell, sauber und gnädig«, wiederholte Locke leise. »Idioten!«
    Jean seufzte. »Wir beide haben kein Recht, so zu reden, denn auf unseren Grabsteinen steht höchstwahrscheinlich die Inschrift ›Er war einer der größten Idioten, die es je gegeben hat‹.«
    »Für das, was ich getan habe, hatte ich gute Gründe, und dasselbe gilt für dich.«
    »Ich bin mir sicher, dass die Duellanten genauso dachten.«
    »Lass uns von hier verschwinden«, drängte Locke. »Wir laufen, bis sich mein Kopf wieder klärt, und dann gehen wir in unseren Gasthof zurück. Bei den Göttern, ich fühle mich alt und griesgrämig. Ich sehe so was wie das Duell vorhin und frage mich, ob ich früher genauso dämlich war wie dieser Junge.«
    »Du warst sogar noch schlimmer«, beschied ihm Jean. »Bis vor Kurzem. Obwohl ich mich nicht wundern würde, wenn du immer noch nichts dazugelernt hättest.«

5
     
     
    Lockes melancholische Stimmung und die Wirkung des Alkohols verflüchtigten sich allmählich, während sie zu Fuß die Goldene Treppe hinabgingen und in Richtung Nord-Nordost auf die Große Galerie zusteuerten. Die Baumeister der Eidren, die für Tal Verrar verantwortlich waren, hatten den gesamten Bezirk mit einem an den Seiten offenen Dach aus Elderglas überspannt, das von der Spitze auf der sechsten Ebene schräg nach unten verlief und am Sockel der westlichsten Insel ins Meer tauchte; an jeder Stelle befand sich zwischen dem Boden und dem Dach ein freier Raum von mindestens dreißig Fuß.
    In unregelmäßigen Abständen erhoben sich seltsam gewundene Glassäulen, die aus Eis geschnitzten, blattlosen Kletterranken glichen. Von einem Ende zum anderen maß die Galerie gut und gern eintausend Yards.
    Hinter der Großen Galerie, auf den niedrig gelegenen Terrassen, befand sich das Mobile Viertel – ungeschützte, übereinander liegende Reihen von Simsen, auf denen es den Ärmsten der Armen gestattet war, provisorische

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