Sturm ueber roten Wassern
sie die »Landlubberburg« genannt; es handelte sich um eine Übungsbühne für angehende Verrari-Seeleute der Kriegs- und Handelsmarine. Ihre Jolle war an einer der circa dreißig Fuß messenden Seiten der quadratischen Plattform festgemacht. Auf dem Steinboden lagen verschiedene Navigationsinstrumente: Peilstöcke, Gradstöcke, Stundengläser, Seekarten und Kompasse; ein Kalkulator und ein Satz unverständlicher Tafeln mit Lochmustern und Stiften, die laut Caldris dazu dienten, Kursänderungen abzustecken. Das Kätzchen schlief auf einem Astrolabium und bedeckte die Symbole, die in die Messingoberfläche eingeritzt waren.
»Freund Jerome hat sich recht wacker geschlagen«, lobte Caldris. »Aber nicht er ist der Kapitän, sondern Sie.«
»Ich dachte, Sie würden all die wichtigen Aufgaben übernehmen, aus Angst, das Schiff könnte mit Mann und Maus untergehen, wenn wir uns einmischen. Das haben Sie uns mindestens hundertmal erzählt.«
»Dabei bleibt es auch. Es wäre der glatte Wahnsinn, daran etwas zu ändern. Aber Sie müssen immerhin so viel Ahnung haben, dass Sie nicht mit dem Daumen im Arsch dastehen und Maulaffen feilhalten, wenn ich irgendeinen Befehl gebe. Zumindest sollten Sie wissen, was bei einem Peilstock vorne und hinten ist, und Sie müssen imstande sein, einen Kurs zu berechnen, der uns nicht ans andere Ende der Welt bringt.«
»Sonnenschatten und Kimm«, murmelte Locke.
»Ganz genau. Heute Nacht werden wir diesen altmodischen Stock zu dem einzigen Zweck benutzen, zu dem er immer noch gut ist – wir bestimmen unsere Position anhand der Sterne.«
»Aber jetzt ist es doch erst kurz nach Mittag!«
»Richtig«, erwiderte Caldris. »Heute haben wir einen langen Tag vor uns. Wir beschäftigen uns mit nautischen Büchern, Seekarten und Mathematik, es wird noch gepullt und gesegelt, und hinterher widmen wir uns wieder den Büchern und Karten. Ihr kommt spät ins Bett. Also findet euch damit ab, dass wir noch eine ganze Weile auf der Landlubber-Burg zubringen werden.« Verächtlich spuckte Caldris auf die Steine. »Und jetzt bestimmen Sie endlich die verdammte geographische Breite!«
7
»Was bedeutet quer schlagen?«, fragte Jean.
Es war spätabends an ihrem neunten Tag mit Caldris, und Jean nahm in einer riesigen Messingwanne ein ausgiebiges Bad. Obwohl es in ihrer Suite in der Villa Candessa sehr warm war, hatte er heißes Wasser verlangt, und selbst nach einer Dreiviertelstunde ringelten sich noch Dampfschwaden in die Höhe. Auf einem kleinen Tisch an der Seite der Wanne stand eine geöffnete Flasche Austershalin-Kognak (der 554er, der billigste, der auf die Schnelle zu kriegen war), und gleich danebenlagen die beiden Bösen Schwestern. Die Blendläden an den Fenstern waren geschlossen, die Vorhänge zugezogen, die Tür verriegelt, und zusätzlich hatte Locke noch einen Stuhl unter die Klinke geklemmt. Sollte jemand versuchen, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen, hätten sie ein paar Sekunden mehr Zeit, um sich gegen eine Attacke zu wappnen. Locke lag auf dem Bett und ließ sich von zwei Glas Kognak die verspannten Muskeln lockern. Seine Stilette lagen griffbereit auf dem Nachttisch.
»Ah, Götter«, ächzte er. »Ich weiß es. Ist es etwas … Schlimmes?« »Durch einen Fehler des Steuermanns oder die Wucht der nachlaufenden See bei achterlichem Wind verursachtes Anluven, das immer mit starker Krängung verbunden ist.«
»Das ist schlimm.«
»Sehr schlimm.« Jean schmökerte in einer zerfledderten Ausgabe von Indrovo Lencallis’ Das praktische Handbuch für den klugen Seemann mit vielen lehrreichen Beispielen aus wahren Begebenheiten. »Du könntest dich ruhig ein bisschen mehr anstrengen, immerhin bist du der Kapitän des Schiffs; ich bin bloß dein Schläger.« »Ich weiß. Nächste Frage.« Lockes eigenes Exemplar dieses Nachschlagewerks lag zurzeit unter seinen Messern und dem Kognakglas.
»Hmmm.« Jean blätterte ein paar Seiten um. »Caldris faselt was von einem raumseitlichen Kurs. Was zur Hölle meint er damit?«
»Das ist ein raumer Kurs, auf dem der Wind ungefähr von querab einfällt«, murmelte Locke.
»Und was versteht man unter einem raumachterlichen Kurs?«
»Also …« Locke legte eine Pause ein und nippte an seinem Kognak. »Der Wind bläst weder gerade in unseren Arsch, noch weht er direkt von der Seite. Er kommt achterlicher als querab ein, und dabei segelt man mit Viertelwind.«
»Stimmt so ungefähr.« Wieder blätterte Jean weiter. »Und jetzt sag der
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