Sturm ueber roten Wassern
ins Boot stieg. »Nutzen Sie die Ihnen noch verbleibende Zeit gut.«
»Und wann, im Namen der Götter, erfahren wir, wie das Ganze zusammenpasst?«
»Alles zu seiner Zeit, Kosta.«
9
Als zwei Tage später frühmorgens das Tor zur privaten Bucht der Schwert-Marina aufschwang, um Merrains Boot einzulassen, entdeckten Locke und Jean zu ihrer Überraschung, dass ihre Jolle über Nacht Gesellschaft von einem richtigen Schiff bekommen hatte.
Es fiel ein sanfter, warmer Regen, kein richtiges Unwetter, das übers Messing-Meer heraufzog, sondern bloß ein lästiges Ärgernis vom Festland. Caldris wartete auf dem Steinplatz, gekleidet in leichtes Ölzeug, und das Wasser rann ihm in Strömen von seinem ungeschützten Haar und Bart. Er grinste, als das Boot Locke und Jean absetzte, beide in Sommersachen und barfuß.
»Seht mal her, ihr zwei!«, brüllte Caldris. »Da ist es! Das Schiff, auf dem wir aller Wahrscheinlichkeit sterben werden. Es fährt unter dem Namen Roter Kurier.«
»Das ist also unser Schiff?« Der Kahn wirkte wie tot; die Segel waren beschlagen, die Lampen nicht angezündet. Ein Schiff in einem derartigen Zustand hatte etwas unglaublich Melancholisches an sich, fand Locke. »Es stammt wohl aus der Flotte des Archonten, nehme ich an.«
»Keineswegs. Es scheint, als hätten die Götter dem Protektor dabei geholfen, diese Mission mit möglichst sparsamen Mitteln durchzuführen. Wissen Sie, was Stilettwespen sind?«
»Das kann man wohl sagen!«
»Vor gar nicht langer Zeit versuchte irgendein Idiot, mit einem Schwärm Stilettwespen in der Schifflast in den Hafen einzulaufen. Die Götter mögen wissen, was er damit vorhatte. Er wurde deswegen exekutiert, und das Schiff vom Archonat beschlagnahmt.
Das Nest mit den kleinen Monstern hat man verbrannt.«
»Natürlich, was denn sonst.« Locke kicherte verhalten. »So gründlich und unbestechlich wie die wackeren Zollbeamten von Tal Verrar sind, haben sie sicher ganze Arbeit geleistet.«
»Der Archont ließ das Schiff kielholen«, fuhr Caldris fort. »Es brauchte neue Segel, einen frischen Anstrich, das Takelwerk wurde ersetzt, und man hat es neu kalfatert.
Drinnen wurde es mit Schwefel ausgeräuchert, und zum Schluss erhielt es einen anderen Namen und sogar eine neue Schiffstaufe. Immer noch viel billiger, als wenn der Archont eines seiner eigenen Schiffe zur Verfügung gestellt hätte.«
»Wie alt ist der Kahn?«
»So an die zwanzig Jahre, schätze ich. Er dürfte einiges mitgemacht haben, aber ein paar Jährchen wird er noch halten. Vorausgesetzt, wir bringen ihn zurück. Und jetzt zeigt mir, was ihr gelernt habt. Was ist das für ein Schiffstyp?«
Locke betrachtete das Schiff, das zwei Masten und ein leicht erhöhtes Achterdeck hatte; mittschiffs war ein einzelnes Boot kieloben verstaut. »Ist das eine caulotte?«
»Nein«, entgegnet Caldris, »das ist eine vestrel, man kann auch Brigg dazu sagen, wenn auch eine sehr kleine. Ich kann verstehen, wieso Sie sie mit einer caulotte verwechseln.
Und jetzt erkläre ich Ihnen die Einzelheiten …«
Caldris erging sich in einer Fülle von hochtechnischen Details, erzählte etwas von Leebrassen und Geitauen, wobei das meiste einfach an Locke vorbeirauschte, wie bei jemandem, der in einer fremden Stadt eintrifft und den eifrigen Wegbeschreibungen eines rasant plappernden Einheimischen lauscht.
»… Vom Vorsteven bis zum Heck misst das Schiff achtundachtzig Fuß, wobei der Bugspriet natürlich nicht mitgerechnet wird«, schloss Caldris.
»Bis jetzt hatte ich mir noch gar nicht richtig vergegenwärtigt, was da auf uns zukommt«, staunte Locke. »Oh Götter, und über dieses Schiff habe ich das Kommando.«
»Ha! Nein. Sie tun nur so, als hätten Sie das Kommando. Fangen Sie mir jetzt bloß nicht an zu spinnen, keine Höhenflüge, ich warne Sie! Das Einzige, was Sie tun, ist, meine Befehle an die Mannschaft weiterzugeben. Und jetzt gehen wir an Bord. Los, los!«
Caldris führte sie eine Rampe hoch und auf das Deck der Roter Kurier; während Locke sich mit großen Augen umsah und jedes sichtbare Detail in sich aufnahm, beschlich ihn wachsendes Unbehagen. Auf seiner einzigen Seereise (auf der er obendrein bettlägerig gewesen war) hatte er sich über den Schiffsbetrieb und das Leben an Bord keine Gedanken gemacht; nun jedoch konnte jeder Knoten und jeder Ringbolzen, jeder Block und jede Talje, jede Want, jede Webeleine, jeder Belegnagel und sonstiger Mechanismus über Tod oder Leben entscheiden – oder
Weitere Kostenlose Bücher