Sturm ueber roten Wassern
Wir gehen in die Hauptkajüte. Heute wird nicht gesegelt; wir befassen uns nur mit Büchern und Karten. Ich weiß doch, wie sehr ihr diese Arbeit liebt.«
10
Am Ende ihrer dritten Trainingswoche mit Caldris nährten Locke und Jean die vorsichtige Hoffnung, dass es kein weiteres Attentat auf sie geben würde. Merrain begleitete sie immer noch jeden Morgen, aber man gestattete ihnen die Freiheit, abends auszugehen, vorausgesetzt, sie bewaffneten sich und blieben innerhalb des Hafengebiets, das zum Arsenale-Distrikt gehörte. In den Tavernen dort wimmelte es von Soldaten und Seeleuten, die dem Archonten dienten, und ein eventueller Attentäter hätte es schwer, ihnen hier aufzulauern.
Zur zehnten Abendstunde des Herzogstags – den die Varrari natürlich Tag der Räte nannten, korrigierte sich Jean -traf er Locke dabei an, wie er im Wirtshaus »Zu den Tausend Tagen« an einem versteckten Tisch hockte und eine Flasche mit Dessertwein anstierte. Die Schankstube war geräumig und hell beleuchtet, und es herrschte der typische Lärm eines gutgehenden Geschäfts. In dieser Kneipe verkehrten Marineangehörige – die besten Tische, über denen Kopien alter Verrari-Gefechtsflaggen hingen, wurden von Offizieren mit Beschlag belegt, deren sozialer Status eindeutig war, ob sie nun ihre Farben trugen oder nicht. Die gemeinen Matrosen tranken und spielten im Halbschatten der weiter am Rand stehenden Tische, und die wenigen Außenseiter sammelten sich an den kleinen Tischchen in der Ecke, wo Locke saß. »Ich dachte mir, dass ich dich hier finden würde«, begann Jean und setzte sich Locke gegenüber. »Was machst du?«
»Ich arbeite. Ist das nicht offensichtlich?« Locke packte die Weinflasche am Hals und deutete damit auf Jean. »Das ist mein Hammer.« Danach klopfte er mit den Fingerknöcheln auf die hölzerne Tischplatte. »Und das ist mein Amboss. Ich klopfe mein Gehirn in eine gefälligere Form.« »Und warum?«
»Ich möchte wenigstens für die Hälfte der Nacht etwas anderes sein als der Kapitän einer beschissenen Phantomsegelexpedition.« Er sprach in einem präzisen Flüsterton, und Jean merkte, dass er noch nicht betrunken war, allerdings den ernsthaften Wunsch hatte, sich volllaufen zu lassen. »Mein Kopf ist angefüllt mit lauter kleinen Schiffen, die andauernd im Kreis fahren und sich eine Freude daraus machen, neue Namen für die hunderttausend Sachen auf ihren Decks zu erfinden!« Er legte eine Pause ein, um einen Schluck zu trinken, dann bot er Jean die Flasche an, der mit einem Kopfschütteln ablehnte. »Ich nehme an, du hast fleißig dein Handbuch für den klugen Seemann studiert.«
»Teils, teils.« Jean drehte seinen Stuhl ein bisschen mehr zur Wand, um die anderen Gäste unauffällig beobachten zu können. »Ich habe auch ein paar höfliche Episteln voller Lügen an Durenna und Corvaleur verfasst; sie schicken unentwegt Briefe in die Villa Candessa und fragen nach, wann wir wieder an die Spieltische zurückkehren, damit sie eine Gelegenheit bekommen, uns fertigzumachen.«
»Ich enttäusche die Damen nur ungern«, erwiderte Locke, »aber heute Nacht nehme ich mir eine Auszeit von allem. Kein Sündenturm, kein Archont, keine Durenna, kein Handbuch, keine Navigationstafeln. Nur simple Arithmetik. Trinker plus Wein ergibt einen Rausch. Leiste mir Gesellschaft. Nur für ein, zwei Stunden. Du weißt, dass du auch ein bisschen Entspannung gebrauchen kannst.«
»Klar. Aber Cadiris wird von Tag zu Tag anspruchsvoller; ich fürchte, morgen früh brauchen wir dringender einen klaren Kopf als heute Nacht ein beduseltes Hirn.« »Caldris’ Unterricht trägt nicht dazu bei, uns mehr Durchblick zu verschaffen, ganz im Gegenteil. Wir stopfen den Lehrstoff von fünf Jahren in einem Monat in uns hinein. Ich bin völlig durcheinander. Weißt du, ehe ich heute Abend in diese Kneipe ging, kaufte ich mir eine halbe Gewürzmelone. Die Frau am Stand fragte mich, welche sie für mich anschneiden sollte, die rechte oder die linke. Ich antwortete: ›Die an Backbord!‹ Ich fange schon an, in nautischen Begriffen zu träumen.«
»Der Seemannsjargon gleicht in etwa der privaten Sprache eines Verrückten, nicht wahr?« Jean nahm seine Brille aus der Rocktasche und klemmte sie auf seine Nasenspitze, um die feine, eingeritzte Schrift auf Lockes Weinflasche entziffern zu können. Ein leidlicher Anscalani-Jahrgang, eine stumpfe Waffe unter den Weinen. »So umständlich und gedrechselt. Angenommen, auf Deck liegt ein Tau. Am
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