Sturm ueber roten Wassern
Name ist Orrin Ravelle. Bis vor wenigen Minuten war ich ein Kapitän der Marine von Tal Verrar. Und ihr seid hier, weil ich euch ausgesucht habe. Jeden Einzelnen von euch. Ich habe euch ausgewählt und danach den Befehl gefälscht, aufgrund dessen ihr in dieses leere Verlies gesteckt wurdet.«
6
»Ursprünglich hatte ich mich für vierundvierzig Gefangene entschieden«, erklärte Stragos. Im Schein der Morgensonne starrten sie den Amwind-Felsen hinauf. Aus der Ferne schob sich ein Boot mit blauberockten Soldaten an das Eiland heran, vermutlich handelte es sich um die Wachablösung. »Ich ließ das zweite Geschoss räumen, bis auf diese Leute. Sämtliche Order, die Ravelles Unterschrift tragen, sind plausibel, doch bei näherer Prüfung stellt man fest, dass sie gefälscht sind. Später liefert mir das einen ausgezeichneten Vorwand, um ein paar Beamte verhaften zu lassen, an deren Loyalität ich … gewisse Zweifel hege.« »Sehr praktisch«, meinte Locke.
»In der Tat.« Stragos gluckste zufrieden in sich hinein. »Diese Gefangenen sind ausnahmslos tüchtige Seeleute, die von Schiffen stammen, die aus irgendwelchen Gründen beschlagnahmt wurden. Einige sitzen bereits seit Jahren im Kerker. Viele sind sogar ehemalige Besatzungsmitglieder der Roter Kurier, die das Glück hatten, nicht zusammen mit ihren Offizieren hingerichtet zu werden. Ein paar mögen durchaus einige Erfahrungen in der Piraterie gemacht haben.«
»Warum werden auf dem Amwind-Felsen Gefangene eingesperrt?«, erkundigte sich Jean. »Ganz generell, meine ich.«
»Sie dienen als Nachschub für Galeeren«, antwortete Caldris. »Es kann nie schaden, genügend Leute zur Verfügung zu haben. Wenn ein Krieg ausbricht, werden sie begnadigt, vorausgesetzt, sie arbeiten für die Dauer der Kämpfe als Galeerenruderer. Auf dem Amwind-Felsen sind meistens genug Häftlinge eingekerkert, um ein paar Galeeren bemannen zu können.«
»Caldris hat völlig recht«, bestätigte Stragos. »Also, wie ich schon sagte, hocken ein paar dieser Männer schon jahrelang in dem Verlies, doch keiner von ihnen musste vorher diese Bedingungen erdulden, mit denen sie sich seit einem Monat herumquälen. Ich ließ ihnen alles wegnehmen, angefangen von sauberem Bettzeug bis hin zu regelmäßigen Mahlzeiten. Die Aufseher waren angehalten, grausam zu sein, und störten die Leute während der Schlafenszeit ständig mit fürchterlichem Lärm und kalten Wassergüssen. Mittlerweile dürfte es unter diesen Leuten keinen einzigen Mann mehr geben, der den Amwind-Felsen, Tal Verrar und mich nicht aus tiefstem Herzen hasst. Und ihr Groll richtet sich gegen mich persönlich, nicht gegen das Amt des Archonten.«
Locke nickte langsam. »Und deshalb erwarten Sie, dass sie Ravelle als ihren Retter betrachten.«
7
»Du hast dafür gesorgt, dass man uns in dieses Höllenloch eingepfercht hat, du verdammter Verrari-Arsch?«
Einer der Gefangenen trat an das Gitter und umklammerte die Stäbe; die erbärmlichen Haftbedingungen hatten diesem Hünen, dessen Körperbau dem einer antiken Heldenstatue erschreckend nahekam, noch nicht viel anhaben können. Locke tippte darauf, dass der Kerl erst kürzlich inhaftiert worden war; seine Muskeln sahen aus, als wären sie aus Hexenholz geschnitzt. Die Haut und die Haare waren so schwarz, dass sie das blassgrüne Licht zu verschlucken schienen.
»Ich habe dafür gesorgt, dass man euch in dieses Verlies verlegt«, entgegnete Locke.
»Aber ich bin nicht dafür verantwortlich, dass man euch überhaupt eingesperrt hat.
Und ich kann auch nichts für die Behandlung, die euch in letzter Zeit zuteilwurde.«
»Behandlung ist ein verdammt vornehmer Begriff für das, was sie hier mit uns gemacht haben.« »Wie heißt du?«
»Jabril.«
»Bist du hier der Sprecher?«
»Für wen oder mit wem sollte ich wohl sprechen?« Ein wenig von dem Groll des Mannes schien abzuebben und sich in müde Resignation zu verwandeln. »Wer erst hinter Gittern sitzt, hat nichts mehr zu melden, Kapitän Ravelle. Wir pissen, wo wir schlafen. Wir führen keine verdammten Musterrollen oder Dienstpläne.«
»Ihr seid doch alle Seeleute«, stellte Locke fest.
»Wir waren Seeleute«, berichtigte Jabril.
»Ich weiß, was ihr seid. Andernfalls wäret ihr nicht hier. Denkt doch mal nach – Diebe lässt man nach draußen. Sie gehen in die Westzitadelle, machen Schwerstarbeit, malochen, bis sie krepieren oder begnadigt werden. Aber selbst sie bekommen den Himmel zu sehen. Selbst
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