Sturm ueber roten Wassern
verstanden?«
Das kleine Mädchen nickte, spitzte die Lippen und streckte die Finger nach dem plötzlich so begehrten Becher aus. Zamira hielt ihn an Cosettas Mund, und die Kleine trank ihn gierig leer.
»Sehr gut«, lobte Drakasha und drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn. »Sehr, sehr gut. Und jetzt bringe ich dich nach unten, damit du und Paolo schlafen könnt.« Sie steckte den Silberbecher in eine Rocktasche, drückte Cosetta an ihre Brust und nickte Jean zu. »Danke, Valora. Das Deck gehört dir, Del. Bin gleich wieder da.«
»Sie hasst es, wenn sie das tun muss«, sagte Ezri leise, als Drakasha im Niedergang verschwand.
»Was? Cosetta das Abendbrot geben?«
»Was sie ihr eingeflößt hat, war Mohnsaft. Sie will, dass die Kinder schlafen, während wir durch die Salon-Passage fahren. Um nichts in der Welt dürfen sie dann wach sein.«
»Was zur Hölle wird denn …«
»Das ist schwer zu erklären«, fiel Ezri ihm ins Wort. »Das Einfachste ist, man bringt es hinter sich. Aber du kannst unbesorgt sein, glaub mir. Dir wird nichts passieren.« Mit einer Hand massierte sie seinen Rücken. »Wer mit meiner schlechten Laune zurechtkommt, der überlebt alles.«
»Eine Frau mit deinem Charakter hat keine schlechte Laune«, widersprach er. »Sie hat höchstens … interessante Launen. Sehr interessante Launen.«
»In meiner Heimat hängt man aufdringliche Schmeichler in Eisenkäfigen nach draußen und lässt sie dort vertrocknen.«
»Jetzt kann ich verstehen, warum du von zu Hause weggelaufen bist. Du inspirierst die Männer derart zu solchen Schmeicheleien, dass euch bald die Käfige ausgegangen wären – und die Männer …«
»Du bist unmöglich, weißt du das?«
»Irgendwie muss ich mich doch ablenken, um nicht unentwegt daran zu denken, was uns womöglich in dieser Passage erwartet…«
»Und was wir in meiner Kajüte getan haben, hat nicht ausgereicht, um dich auf andere Gedanken zu bringen?«
»Na ja, wir könnten ja noch mal runtergehen und …«
»Leider ist die strengste Zuchtmeisterin auf diesem Schiff weder Drakasha noch ich, sondern die Pflicht.« Sie küsste Jean auf die Wange. »Wenn du dich beschäftigen willst, dann fang schon mal mit den Vorbereitungen für die Passage an. Geh zum Laternenschapp im Bug, und bring mir die alchemischen Lichter.«
»Wie viele?«
»Alle. Bring alle, die du finden kannst.«
4
Die zehnte Nachtstunde. Die Dunkelheit senkte sich wie ein Mantel über den Geisterwind-Archipel, und die Giftorchidee stand unter Toppsegeln in der SalonPassage, von weißen und gelben Lichtern erhellt. Hundert alchemische Laternen waren geschüttelt worden, bis sie glühten, und dann hatte man sie rings um den gesamten Schiffsrumpf verteilt; ein paar hingen auch in der Takelage, doch die meisten funkelten längs der Reling und spiegelten sich als feurige Facetten im schwarzen Wasser.
»Gerade sechs«, sang einer der beiden Lotgasten aus, die Drakasha an den Seiten platziert hatte, wo sie die mit Bleigewichten beschwerten Lotleinen auswarfen, um die Wassertiefe zu bestimmen. Sechs Faden; sechsunddreißig Fuß. Die Orchidee konnte durch wesentlich flachere Gewässer navigieren.
Normalerweise wurde nur gelegentlich das Lot ausgeworfen, und ein Lotgast genügte, um festzustellen, wie tief das Meer an einer Stelle war. Nun jedoch schwangen zwei Matrosen, die zu den ältesten und erfahrensten Lotgasten gehörten, pausenlos die Bleie mit aller Kraft und sangen ständig die Ergebnisse aus. Doch das Seltsamste war, dass jeder der beiden Matrosen beobachtet wurde von einem kleinen Trupp … Aufseher, war wohl der passendste Ausdruck, der Jean dafür einfiel. Bewaffnete Seeleute, die ihre volle Kampfmontur angelegt hatten.
Überall auf dem Schiff hatte man die eigentümlichsten Vorkehrungen getroffen. Die Toppgasten – Vollmatrosen, speziell für die Arbeit in der Takelage ausgebildet – waren aufgeentert und warteten nun darauf, die Segel einzustellen. Ausnahmsweise hatten sie sich Sorgleinen um die Taillen gebunden; wenn sie das Gleichgewicht verloren und herunterfielen, würden sie zwar wie Pendel hin und her schwingen, aber wenigstens wären sie nicht in den Tod gestürzt. Echte Feuer hatte man gelöscht, Rauchen war strengstens verboten. Drakashas Kinder schlummerten in ihrer Kajüte, mit fest verschalkten Heckfenstern und einer Wache an der Niedergangstür. Drakasha selbst trug ihre Weste aus Elderglasmosaik, und die Säbel hingen griffbereit in den Scheiden.
Weitere Kostenlose Bücher