Sturm ueber roten Wassern
drehte wie ein Automat ihre Sanduhren um. Die nächsten zweiundzwanzig Minuten vergingen in beklemmender Stille, die nur gelegentlich vom Knattern eines Segels und dem monotonen Wechselgesang der Lotgasten unterbrochen wurde. Während die Minuten dahinkrochen, baute sich eine nervenzerfetzende Spannung auf, bis …« »Zeit, Käpt’n.«
»Danke, Del. Mum, Ruder nach Lee! Bring uns Südwest zu West.« Sie hob die Stimme. »Los jetzt! Klarmachen zum Steuerbordhalsen, Südwest zu West!«
Segel flatterten, Matrosen rannten fluchend über Deck und fuhrwerkten mit den Tauen herum, während das Schiff sich überlegte und den neuen Kurs einschlug. Mitten im dicksten Nebel vollführten sie eine Drehung; die mit Dschungeldüften durchtränkte Brise schien sie zu umkreisen wie ein Boxer, der um seinen Gegner herumtänzelt, bis Jean spürte, wie der Wind von der anderen Seite einkam. »Recht so, Mum!«, rief Drakasha. »Ezri, fünfzehn Minuten.« »Fünfzehn, aye!«
»Jetzt kommt’s, verdammte Scheiße«, murmelte Mumchance. »Halt den Mund!«, fuhr Drakasha ihn an. »Das Einzige, das hier draußen wirklich gefährlich ist, sind wir. Kapiert!«
Jean spürte, wie die Haut auf seiner Stirn zu prickeln anfing. Er hob die Hand und wischte sich die Schweißtropfen ab. »Dreiviertel über vier«, sang ein Lotgast aus. Jean, flüsterte eine leise Stimme. »Was ist, Orrin?«
»Häh?« Locke klammerte sich mit beiden Händen an die Reling und gönnte Jean kaum einen Blick. »Was willst du?«
»Ich habe doch gar nichts gesagt.« »Bist du …« Jean Tannen.
»Oh, Götter«, ächzte Locke. »Du auch?« Jean starrte ihn an. »Eine Stimme …« »Nicht aus der Luft«, wisperte Locke. »Eher so wie … du weißt schon, wen ich meine. Damals in Camorr.« »Wieso spricht es meinen …«
»Irrtum«, raunte Drakasha ihnen hastig zu. »Wir alle hören, wie es zu uns spricht. Wir alle hören unseren Namen. Reißt euch zusammen!«
»Korrupter Wärter, ich fürchte nicht die Dunkelheit, denn die Nacht ist dein«, murmelte Locke und stach mit Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand in die Finsternis. Der Dolch des Dreizehnten, die Geste eines Diebes, um das Böse abzuwenden. »Deine Nacht ist mein Mantel, mein Schild, meine Rettung vor denen, die auf die Jagd gehen, um die Henkersschlinge zu füttern.
Ich fürchte kein Übel, denn du hast mir die Nacht zum Freund gegeben.«
»Gesegnet sei der Wohltäter«, schloss Jean und drückte Lockes linken Unterarm.
»Friede und Wohlstand für seine Kinder.«
Jean … Estevan … Tannen.
Er fühlte die Stimme, und ihm wurde klar, dass sie in seinem Inneren entstand und als imaginäres Echo in seinen Ohren widerhallte. Sie drang in sein Bewusstsein und verursachte dort ein Kitzeln, als würden Insekten über seine Haut krabbeln. Wieder wischte er sich die Stirn ab und merkte, dass er übermäßig schwitzte; gewiss, die Nacht war warm, doch seine Schweißausbrüche hatten nichts mit der milden Temperatur zu tun.
Irgendwo auf dem Vordeck fing jemand haltlos an zu schluchzen.
»Zwölf«, hörte Jean Ezri flüstern. »Noch zwölf Minuten.«
Das Wasser ist kühl, Jean Tannen. Dir ist sehr heiß. Die Kleidung juckt auf deiner Haut. Es wird langsam unerträglich. Im Wasser könntest du dich erfrischen.
Drakasha straffte die Schultern und stieg die Achterdecktreppe hinab in die Kühl. Sie fand den schluchzenden Matrosen, half ihm fürsorglich auf die Füße und tätschelte seinen Rücken. »Kopf hoch, Leute. Das ist kein Feind aus Fleisch und Blut. Wir sind nicht in der Schlacht. Haltet durch!«
Sie klang sehr mutig. Jean fragte sich, wie viele der Besatzungsmitglieder wohl wussten oder vermuteten, dass sie ihre Kinder lieber mit Mohnsaft betäubte, als sie diesen Schrecken auszusetze n.
Erlag Jean einer Sinnestäuschung, oder lichtete sich an Steuerbord tatsächlich der Nebel? Die grauen Schleier wurden nicht dünner, doch die Dunkelheit dahinter schien abzunehmen … auf eine seltsame Art zu leuchten. Das verhaltene Zischen von Wasser schwoll an zu einem steten, pulsierenden Rhythmus.
Wellen brachen sich an Untiefen. Am Saum ihres kleinen Lichtkreises erblickten sie eine schwarze, kabbelige See.
»Das Riff«, brummte Mumchance. »Gerade fünf!«, rief ein Lotgast.
Etwas regte sich in dem Dunst, der Hauch einer Bewegung. Angestrengt spähte Jean in die wirbelnde Finsternis. Er kratzte sich an den Stellen, an denen seine schweißnasse Tunika auf der Haut scheuerte.
Komm ins Wasser, Jean Tannen.
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