Sturm ueber roten Wassern
»Dreiviertel über fünf«, rief ein Lotgast.
»Nebel zieht auf«, murmelte Jean. Er und Locke lehnten an der Heckreling des Achterdecks. In ihrer Nähe stapfte Drakasha auf und ab, Mumchance hatte das Ruder und Delmastro stand am Kompasshaus, ausgerüstet mit einem kleinen Kasten voller Präzisions-Zeitmessgeräte. »So fängt es an«, orakelte Mumchance.
Die Orchidee glitt in eine Fahrrinne hinein, die ungefähr eine Meile breit war; zu beiden Seiten ragten Klippen in die Höhe, die bis zur Mitte der Masten reichten. Auf den Spitzen wucherte ein dunkler, verfilzter Dschungel, der mit dem finsteren Himmel verschmolz. Schwache Laute, deren Verursacher nicht auszumachen waren, drangen bis zum Schiff herüber; Schreie, Knacken, Rascheln. In den Lichtbögen der Laternen konnte man ungefähr fünfzig, sechzig Fuß weit sehen, und am Rand dieses schimmernden Kreises gewahrte Jean graue Nebelfäden, die sich aus dem Wasser nach oben kräuselten.
»Ein halb über fünf«, sang der Lotgast an Steuerbord aus.
»Käpt’n Drakasha.« Utgar stand an der Heckreling, die Logleine in der Hand. »Vier Knoten!«
»Aye«, erwiderte Drakasha. »Vier Knoten und das Heck liegt auf gleicher Höhe mit der Einfahrt in die Passage. Sag mir Bescheid, wenn zehn Minuten um sind, Del.«
Delmastro nickte, drehte eines der Zeitmessgläser um und beobachtete, wie der Sand von der oberen in die untere Kammer rieselte. Derweil trat Drakasha an die vordere Reling des Achterdecks.
»Beachtet Folgendes«, rief sie den Matrosen zu, die an Deck arbeiteten oder auf ihren Einsatz warteten. »Wenn ihr merkt, dass ihr euch irgendwie seltsam fühlt, entfernt ihr euch von der Reling. Wer es an Deck nicht aushält, geht nach unten. Diese Prüfung müssen wir auf uns nehmen, und wir haben es bereits früher geschafft. Wenn ihr auf dem Schiff bleibt, kann euch nichts passieren. Denkt immer daran. Verlasst niemals das Schiff!«
In immer dichteren Schwaden stieg der Nebel aus dem Wasser hoch. Die schemenhaften Umrisse der Klippen und des Dschungels waren bald nicht mehr auszumachen. Vor ihnen lag nichts als Schwärze.
»Zehn, Käpt’n«, verkündete Delmastro schließlich.
»Bei der Marke fünf!«, schrie einer der Rudergasten.
»Mum, Ruder nach Lee.« Mit einem Holzkohlestäbchen kritzelte Drakasha hastig eine Notiz auf ein zusammengefaltetes Stück Pergament. »Ruder zwei Speichen nach backbord aufkommen lassen.«
»Aye, Käpt’n, Ruder zwei Speichen backbord.«
Als der Segelmeister den Kurs korrigierte, krängte das Schiff leicht über. Die Toppgasten nahmen an den Segeln und der Takelage Veränderungen vor, Drakashas Anweisungen folgend, die sie ihnen vor der Einfahrt in die Passage eingebläut hatte.
»Sag mir nach zwölf Minuten Bescheid, Del.« »Aye, Käpt’n, zwölf Minuten.«
Während die zwölf Minuten verstrichen, wurde der Nebel immer undurchdringlicher, wie Rauch von einem gewaltigen Feuer. Zu beiden Seiten drängte er wie eine wabernde graue Wand auf das Schiff ein; der Nebel schien sie mitsamt ihren Lichtern und Geräuschen in eine gigantische Blase einzuschließen und total von der Außenwelt abzuschotten. Das Knarren der Taljen und der Takelage, das Klatschen der Wellen gegen den Rumpf, das Stimmengewirr – all diese vertrauten Dinge hallten in einem leisen Echo wider, und der Lärm des Dschungels war völlig verstummt. Immer dichter kroch der Nebel heran, bis er in den Lichtkreis der Schiffslaternen vordrang. Nun betrug die Sichtweite in jede Richtung keine vierzig Fuß mehr.
»Zwölf, Käpt’n«, meldete Delmastro.
»Mum, abfallen!« Drakasha starrte auf den Kompass in seinem Gehäuse. »Ruder nach Luv. Bring uns Nordwest zu West.« Den Matrosen in der Kühl brüllte sie zu: »Klarmachen zum Fieren und Holen! Nordwest zu West, raum-achterlicher Kurs!« Ein paar Minuten lang herrschte fieberhafte Betriebsamkeit, als das Schiff langsam auf seinen neuen Kurs drehte und die Mannschaft die Rahen rundbrasste. Unterdessen wuchs in Jean die Überzeugung, dass der Nebel tatsächlich den Schall schluckte, er sich das Ganze also nicht einbildete. Jedes Geräusch auf dem Schiff erstarb, sowie es auf diese substanzlose Wand traf. Lediglich der feuchte, erdige Geruch des Dschungels, der von der warmen Brise getragen über das Achterdeck wehte, gab einen Hinweis darauf, dass es hinter dem Nebel noch eine Welt gab. »Bei der Marke sieben«, sang einer der Lotgasten aus. »Zweiundzwanzig Minuten, Del.«
»Aye«, bestätigte Delmastro und
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