Sturm ueber roten Wassern
eingingen; wenn ihr Gegner sie überholte, konnte er auf Abfangkurs gehen und würde sie eher aufbringen als bei einer Heckjagd. Das Problem war, dass sie nicht ewig nach Norden segeln konnten; unbegrenzten Seeraum gab es nur im Westen.
»Ich bin mir nicht sicher, ob wir Raum gewinnen, Käpt’n«, zweifelte Delmastro nach ein paar Minuten des Schweigens.
»Ich auch nicht. Diese verfluchte kabbelige See. Wenn es ein Dreimaster ist, schaufelt er das Wasser mit dem Bug zur Seite und macht mehr Fahrt als wir.«
»Käpt’n!« Der Ruf vom Großmastausguck klang noch dringlicher als sonst. »Käpt’n, das Schiff fällt nicht ab und … Käpt’n, bitte um Vergebung, aber das sollten Sie sich selbst ansehen.«
»Was soll ich mir ansehen?«
»Wenn ich nicht verrückt bin, dann habe ich das Schiff schon mal gesehen!«, brüllte die Matrosin. »Ich schwöre jeden Eid darauf! Kann ich vielleicht ein besseres Fernrohr haben?«
»Ich entere auf und überzeuge mich selbst«, erklärte Delmastro. »Darf ich mir Ihr bestes Fernrohr ausborgen?«
»Wenn du es fallen lässt, gebe ich deine Kabine Paolo und Cosetta.«
Locke sah zu, wie Delmastro wenige Minuten später den Großmast aufenterte, bewaffnet mit Zamiras ganzem Stolz, einem Meisterstück an Verrari-Optik, überzogen mit alchemisch behandeltem Leder. Es vergingen ein paar Minuten, ehe sie zum Deck hinunterrief:
»Käpt’n, es ist die Tyrann!«
»Was? Del, bist du dir auch ganz sicher?«
»Hab das Schiff doch oft genug gesehen, oder?«
»Ich komme selbst hoch.«
Locke und Jean starrten einander an, als Zamira in die Großmastwanten sprang. Unter den Matrosen an Deck erhob sich lautes Gemurmel und Fluchen. Rund ein Dutzend Crewmitglieder ließen alles stehen und liegen und rannten nach achtern, wo sie die Hälse reckten, um im Süden einen Blick auf ein Segel zu erhaschen. Besorgt hetzten sie an ihre jeweiligen Stationen zurück, als Drakasha und Delmastro mit grimmigen Mienen aufs Achterdeck zurückkletterten.
»Ist er es wirklich?«, fragte Locke.
»Allerdings«, bestätigte Drakasha. »Und falls er schon eine ganze Weile nach uns Ausschau hält, dann bedeutet das, dass er Port Prodigal kurz nach uns verlassen haben muss.«
»Ob er … eine Botschaft oder etwas in der Art für Sie hat?«
»Nein.« Drakasha nahm ihren Hut ab und fuhr sich mit der freien Hand beinahe nervös durch die Zöpfe. »Er war mehr als jeder andere aus dem Rat der Kapitäne gegen meinen Plan eingestellt. Er hat nicht diese lange Reise auf sich genommen und es riskiert, sich mit seinem Schiff Tal Verrar so weit zu nähern, dass man hinspucken könnte, um mir eine Nachricht zu überbringen.
Ich fürchte, wir werden das Gespräch, bei dem wir unterbrochen wurden, ein anderes Mal fortsetzen müssen, Ravelle. Zuerst einmal müssen wir dafür sorgen, dass die Orchidee am Ende dieses Tages noch schwimmt.«
3
Über die weißen Schaumkronen der Wellen hinweg starrte Locke auf die Tyrann, die nun gut sichtbar über der Kimm stand und auf sie zuhielt wie eine Nadel, die von einem Magneten angezogen wird. Es war die zehnte Morgenstunde, und es bestand kein Zweifel daran, dass Rodanov aufholte.
Zamira rammte ihr Fernrohr zusammen und wandte sich von der Heckreling ab, wo sie ihren Verfolger beobachtet hatte.
»Käpt’n«, begann Delmastro, »es muss doch einen Weg geben … wenn wir ihn uns bis zum Einbruch der Nacht vom Hals halten können …«
»Dann stehen die Chancen für uns günstiger, aye. Aber nur eine direkte Heckjagd könnte uns so viel Zeit verschaffen, und wenn wir nach Norden segeln, treffen wir lange vor der Abenddämmerung auf Land. Ganz zu schweigen davon, dass die Tyrann gerade erst überholt wurde und die Orchidee längst überfällig ist. Tatsache ist, dass wir dieses Rennen bereits verloren haben.«
Eine Weile schwiegen Drakasha und Delmastro, bis Delmastro sich räusperte.
»Dann … äh … lasse ich wohl besser klarschiff zum Gefecht machen, oder?«
»Aye. Wer von der Roten Wache noch schläft, soll ruhig weiter schlafen. Wenn es zum Kampf kommt, sollen die Leute ausgeruht sein.«
Delmastro nickte, packte Jean beim Ärmel seiner Tunika und zog ihn mit sich zur Frachtluke des Hauptdecks.
»Sie wollen kämpfen«, murmelte Locke.
»Ich habe gar keine andere Wahl, als zu kämpfen. Du genauso wenig, wenn du heute Abend noch am Leben sein willst. Rodanovs Besatzung ist fast doppelt so stark wie unsere. Du kannst dir vorstellen, was uns erwartet.«
»Und
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