Sturm ueber roten Wassern
Bögen als behelfsmäßige Krücken.
Götter. So sieht das also aus, wenn man das Kommando über ein Schiff hat. Man stellt sich den Konsequenzen und tut so, als hätte man alles im Griff.
»Jean«, flüsterte er und beugte sich über seinen Freund, der auf den Planken hockte.
»Jean, bleib hier. Bleib hier, so lange du willst. Ich bin ganz in der Nähe. Ich muss mich nur um ein paar Dinge kümmern, in Ordnung?«
Jean deutete ein Nicken an.
»Also gut«, seufzte Locke und blickte noch einmal in die Runde, dieses Mal auf der Suche nach den nur leicht Verletzten. »Konar!«, brüllte er. »Konar der Riese! Stell eine Pumpe auf, die erstbeste, die du finden kannst, leg einen Schlauch durch diese Frachtluke, und spül die Last gründlich aus. Da unten darf kein Schwelbrand entstehen. Oscarl! Zu mir! Besorg mir Segeltuch und Messer. Wir müssen die toten Kameraden bestatten!«
Sein Blick wanderte über die Leichen an Deck. Wir müssen uns um sie kümmern, dachte Locke. Und danach kümmere ich mich um die Angelegenheiten in Tal Verrar. Ich werde dem ein Ende setzen. Ein für alle Mal.
Kapitel Sechzehn
Vergeltung
1
»Korrupter Wärter, Namenloser Dreizehnter, dein Diener ruft dich an. Richte deinen Blick auf diese Frau, Ezri Delmastro, Ionos und deine Dienerin. Die geliebte Gefährtin eines Mannes, den du liebst.« Lockes Stimme brach, und er rang um Fassung. »Die geliebte Gefährtin eines Mannes, der mein Bruder ist. Wir … wir gönnen dir diese Frau nicht, Herr, das sage ich ganz offen.«
Von der Crew der Orchidee waren nur noch achtunddreißig Männer und Frauen übrig; fünfzig hatten sie über die Seite geworfen, die anderen während des Kampfes verloren.
Locke und Zamira teilten sich die Pflichten, die mit den Bestattungen einhergingen.
Lockes Rezitationen waren mit jeder Wiederholung mechanischer geworden, doch nun, bei dem letzten Ritual an diesem Abend, ertappte er sich dabei, wie er den Tag verfluchte, an dem man ihn als Priester des Korrupten Wärters eingesegnet hatte. An dem Tag, von dem man annahm, es könnte sein dreizehnter Geburtstag sein, unter dem Waisenmond. Welche Macht und welche Magie hatte er damals mit diesem Amt verbunden. Oh ja, er hatte die Macht und die Magie, Bestattungen vorzunehmen. Er runzelte die Stirn, unterdrückte um Ezris willen diese zynischen Gedanken und fuhr fort:
»Dies ist die Frau, die uns allen das Leben gerettet hat. Dies ist die Frau, die Jaffrim Rodanov besiegte. Wir schicken ihren Leib und ihren Geist in das Reich deines Bruders Iono, des mächtigen Herrschers der Meere. Hilf ihr. Trage ihre Seele zur Herrin des Langen Schweigens, auf dass sie von ihr gewogen werde. Darum bitten wir dich aus vollem Herzen.«
Jean kniete vor der Segeltuchhülle nieder und legte eine dunkelbraune Haarlocke darauf. »Mein Fleisch«, flüsterte er. Mit einem Dolch ritzte er sich in den Finger und ließ einen roten Tropfen auf die Haare fallen. »Mein Blut.« Er beugte sich über die Stelle, an der Ezris Kopf war, und drückte einen langen Kuss darauf. »Mein Atem und meine Liebe.«
»Damit hast du ein bindendes Versprechen gegeben«, verkündete Locke.
»Mein Versprechen«, sagte Jean langsam und erhob sich. »Meine Totengabe, Ezri.
Mögen die Götter mir beistehen, damit ich nicht versage.«
Zamira, die in der Nähe stand, trat heran und hob eine Seite der Holzplanke an, auf der Ezris in Segeltuch gehüllter Leichnam lag. Locke nahm die andere Seite; Jean, der Locke schon vor der Zeremonie gewarnt hatte, war außerstande zu helfen. Er rang die Hände und wandte den Blick ab. Im Nu war es vorbei – Locke und Zamira kippten die Planke, und die Segeltuchhülle glitt durch die Eingangspforte in das dunkle Wasser hinab. Es war eine Stunde nach Sonnenuntergang, und endlich war die Zeremonie vorüber.
Der Kreis aus stummen, zumeist verwundeten Seeleuten begann sich aufzulösen, entweder um sich weiter von Treganne verarzten zu lassen, oder um mit letzter Kraft die anfallenden Arbeiten zu verrichten. Vorläufig musste Rask Ezri, Nasreen und Utgar ersetzen; mit dick bandagiertem Kopf fing er an, sich die Überlebenden zu schnappen, die sich halbwegs auf den Beinen halten konnten, und ihnen Aufgaben zuzuweisen.
»Was jetzt?«, fragte Locke.
»Jetzt hinken wir, bei zumeist ungünstigem Wind, nach Tal Verrar zurück.« Zamiras Stimme klang müde, aber ihr Blick war fest. »Wir hatten eine Vereinbarung. Ich habe mehr Verluste eingesteckt, als ich für möglich gehalten
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