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Sturm ueber roten Wassern

Sturm ueber roten Wassern

Titel: Sturm ueber roten Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Lynch
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den Masten. Keiner leistet Widerstand. Ich bin mir sicher, dass es für alle hier eine freundschaftliche Lösung gibt – außer für Sie, Drakasha.«
    »Die Kehlen aufschlitzen und über Bord werfen!«, brüllte Treganne, die oben am Niedergang erschien, eine Armbrust in der Hand. »So sieht die freundschaftliche Lösung aus, nicht wahr, Utgar?« Sie stapfte an die Achterdeckreling und legte die Armbrust gegen ihre Schulter. »Auf diesem Schiff liegen bergeweise Verwundete, und für die bin ich verantwortlich, du Scheißkerl!«
    »Treganne, nein!«, kreischte Drakasha.
    Doch die Bordärztin war bereits zur Tat geschritten; Utgar bäumte sich auf und erschauerte, als sich der Bolzen in seinen Rücken bohrte. Die graue Kugel fiel ihm aus der linken Hand, und mit der Rechten zog er eine dünne weiße Schnur heraus. Er stürzte aufs Deck, und die Höllenkugel verschwand in der Luke.
    »Oh nein!«, ächzte Jean. »Nein, nein, nein«, flüsterte Ezri.
    »Die Kinder!«, schrie Jean plötzlich auf. »Ich hole sie …«
    Fassungslos starrte Ezri auf die Frachtluke. Sie sah Jean an und blickte dann zur Luke zurück.
    »Nicht nur die Kinder werden sterben«, hauchte sie. »Das ganze Schiff verbrennt.«
    »Ich gehe trotzdem«, rief Jean.
    Sie schlang ihre Arme um ihn und drückte ihn so fest, dass er kaum Luft bekam.
    Hastig flüsterte sie ihm ins Ohr: »Verflucht noch mal, Jean Tannen. Du machst es mir … so verdammt schwer!«
    Dann rammte sie ihm die Faust in den Magen; sie schlug härter zu, als selbst er es für möglich gehalten hätte. Er kippte auf den Rücken, krümmte sich vor Schmerzen, und in dem Augenblick, in dem sie ihn losließ, wusste er, was sie vorhatte. Er schrie in ohnmächtiger Wut und versuchte nach ihr zu greifen. Aber sie rannte schon über das Deck zur Frachtluke.

15
     
     
    Als Locke sieht, wie Ezri die Faust ballt, weiß er, was sie plant; Jean hingegen, dessen Reflexe durch Liebe oder durch Erschöpfung oder durch beides abgestumpft sind, merkt offensichtlich nicht das Geringste. Und ehe Locke einschreiten kann, boxt sie Jean in den Magen und stößt ihn mit aller Kraft nach hinten, sodass er Locke von den Füßen reißt. Als Locke hochblickt, sieht er gerade noch, wie Ezri in den dunklen Frachtraum springt, aus dem eine Sekunde später ein unnatürlicher orangeroter Schein aufsteigt.
    »Oh, Korrupter Wärter«, flüstert er noch, und danach spult sich alles unglaublich verlangsamt vor seinen Augen ab, als habe sich die Zeit in einen zähflüssigen Sirup verwandelt …
    Treganne an der Achterdeckreling wirkt wie gelähmt; ganz offenbar hat sie nicht begriffen, was sie mit ihrer gut gemeinten Tat angerichtet hat.
    Drakasha stolpert nach vorn, die Säbel noch in den Händen, aber sie ist nicht schnell genug, um Ezri aufzuhalten oder sich ihr anzuschließen.
    Jean kriecht über die Planken, kaum imstande, sich zu bewegen, doch mit schierer Willenskraft versucht er, Ezri hinterherzusetzen; er holt die letzten Reserven aus den Muskeln heraus, die ihm noch gehorchen, und streckt eine Hand nach der Frau aus, die längst nicht mehr da ist.
    Die Besatzungen beider Schiffe starren mit weit aufgerissenen Augen und offenen Mündern auf die Szene, stützen sich gegenseitig oder auf ihre Waffen, vergessen vorläufig den Kampf.
    Utgar fasst nach dem Bolzen in seinem Rücken, mit fahrigen, zunehmend schwächeren Bewegungen. Seit Ezri in die Frachtluke gesprungen ist, sind fünf Sekunden vergangen. Und nach diesen fünf Sekunden beginnen die Schreie …

16
     
     
    Sie erschien auf der Treppe zum Hauptdeck, die Höllenkugel in den Händen. Doch nein, vergegenwärtigte sich Locke entsetzt – sie musste gewusst haben, dass ihre Hände verbrennen würden. Aus diesem Grund presste sie das Ding fest an ihre Brust.
    Die Kugel strahlte in einer weißen Glut; wie eine winzige Sonne brannte sie in den Farben von geschmolzenem Silber und Gold. Aus einer Entfernung von dreißig Schritt spürte Locke die Hitze auf seiner Haut, roch sofort den seltsam beißenden Gestank von glühendem Metall. Ezri rannte, sofern sie überhaupt noch rennen konnte; als sie sich der Reling näherte, war es nur noch ein Laufschritt, und dann ein verzweifeltes Hüpfen. Die ganze Zeit über stand sie lichterloh in Flammen und schrie sich die Seele aus dem Leib, und sie war nicht aufzuhalten.
    Sie schaffte es bis zur Backbordreling, und mit einem letzten krampfhaften Zucken ihres Rückens, der Beine und dem, was von ihren Armen noch übrig

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