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Sturm ueber roten Wassern

Sturm ueber roten Wassern

Titel: Sturm ueber roten Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Lynch
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Horizont fiel wie ein Mordopfer, dem ein Dolch zwischen die Rippen gerammt wird; sie vermissten die Übergangsphase des Truglichts, das die Welt eine ganze Weile in einen überirdischen Glanz tauchte. Aber Tal Verrar war aus welchen Gründen auch immer – seien sie geschmacklicher oder praktischer Art – anders gebaut als Camorr, und das in dieser Stadt enthaltene Elderglas spiegelte lediglich den Himmel wider, ohne ein eigenes Licht zu erzeugen.
    Ihre Suite in der Villa Candessa hatte eine hohe Decke und war opulent ausgestattet; für fünf Silbervolani pro Nacht durfte man auch Luxus erwarten. Von ihrem Fenster im vierten Stock aus blickten sie auf einen mit Kopfsteinen gepflasterten Hof, in dem reger Verkehr herrschte; laternengeschmückte  Kutschen ratterten hinein und wieder hinaus, oftmals begleitet von einer Eskorte aus berittenen Söldnern, die für Schutz sorgten. Der Lärm, den die Pferde und die Räder der Kaleschen auf dem Steinpflaster veranstalteten, war mitunter ohrenbetäubend. »Soldmagier«, murmelte Jean, während er sich vor einem Spiegel ein Halstuch umband. »Einen dieser Verbrecher würde ich nicht mal einstellen, um mir Tee zu kochen, und wenn ich reicher wäre als der Herzog von Camorr.« »Warum nicht?«, meinte Locke, der bereits angezogen war und an einer Tasse Kaffee nippte. Er hatte den ganzen Tag durchgeschlafen und war mit völlig klarem Kopf aufgewacht. »Wenn wir reicher wären als der Herzog von Camorr, könnten wir eine ganze Bande von denen anheuern und ihnen befehlen, sich auf irgendeine einsame Insel zu verpissen und nie wieder aufzutauchen.«
    »Mmmm. Ich glaube nicht, dass die Götter eine Insel geschaffen haben, die abgeschieden genug ist, damit ich mich vor diesem Ungeziefer sicher fühlen könnte.«
    Mit einer Hand gab Jean dem gebundenen Halstuch den letzten Schliff, mit der anderen angelte er sich sein Frühstück. Eine der kuriosen Dienstleistungen, welche die Villa Candessa ihren Langzeitgästen bot, war das Backen von »Porträtküchlein« - kleinen, mit Zuckerguss überzogenen Skulpturen aus Teig, die der in Camorr ausgebildete Konditor des Hauses kreierte. Auf einem silbernen Tablett neben dem Spiegel saß ein kleiner Locke aus Mürbeteig (mit Rosinenaugen und blonden Haaren aus Mandelbutter) neben einem rundlicheren Jean mit einem Schopf und Bart aus dunkler Schokolade. Jeans Beine waren bereits verputzt worden.
    Kurze Zeit später bürstete Jean die letzten klebrigen Krümel von der Vorderseite seines Rocks. »Schade um den armen Locke und den armen Jean.«
    »Sie starben an der Schwindsucht«, kommentierte Locke.
    »Ich wünschte, ich könnte dabei sein, wenn du mit Requin und Selendri sprichst«, bedauerte Jean.
    »Hmmm. Kann ich mich darauf verlassen, dass du immer noch in Tal Verrar weilst, wenn unsere Unterhaltung beendet ist?« Er versuchte, der Bemerkung mit einem Lächeln die Schärfe zu nehmen, was ihm jedoch nicht ganz gelang.
    »Du weißt, dass ich nicht abhaue«, erwiderte Jean. »Ich bin mir nicht sicher, ob das klug ist, aber du weißt ganz genau, dass ich nicht kneife.«
    »Natürlich. Entschuldige bitte.« Locke trank seinen Kaffee aus und setzte die Tasse ab.
    »Und meine Unterredung mit Requin wird nicht sonderlich interessant werden.«
    »Blödsinn! Aus deiner Stimme höre ich ein zufriedenes Lächeln heraus. Andere Leute lachen, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig sind; aber du grinst wie ein Idiot, bevor du richtig anfängst, dich ins Zeug zu legen.«
    »Ich soll grinsen? Meine Gesichtszüge sind so schlaff wie die einer Leiche. Ich freue mich nur darauf, den Stein endlich ins Rollen zu bringen, damit ich diese lästige Angelegenheit hinter mir habe. Das Treffen dürfte ziemlich langweilig werden.«
    »Langweilig, leck mich am Arsch! Nachdem du schnurstracks zu der Dame mit der verdammten Messinghand hingegangen bist und ihr eröffnet hast: ›Ich bitte um Vergebung, Madam, aber …‹«

2
     
     
    »Ich habe gemogelt«, gestand Locke. »Dauernd. Bei jedem einzelnen Spiel, das mein Partner und ich hier spielten, seit wir vor zwei Jahren zum ersten Mal den Sündenturm betraten.«
    Es war ein merkwürdiges Gefühl, von Selendri durchdringend angestarrt zu werden; anstelle ihres linken Auges klaffte eine dunkle Höhle, halb verdeckt von einem durchsichtigen Häutchen, das früher das Augenlid gewesen war. Ihr rechtes Auge funktionierte jedoch doppelt so gut, und der Blick, mit dem sie Locke musterte, zerrte an seinen Nerven.
    »Sind Sie taub,

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