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Sturm ueber roten Wassern

Sturm ueber roten Wassern

Titel: Sturm ueber roten Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Lynch
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Gastfreundschaft anbieten zu dürfen.«
    Locke suchte noch krampfhaft nach einer passenden Entgegnung und schickte ein stummes Dankgebet an den Korrupten Wärter, als Jean ihm zuvorkam.
    »Die Ehre ist ganz auf unserer Seite, Protektor.« Seine Stimme klang heiser, doch seine Geistesgegenwart kehrte bereits zurück. »Die Schwitzkammer war ein geringer Preis, den wir gern zahlen, um in den Genuss einer … einer unverhofften Audienz zu kommen. Es gibt nichts zu verzeihen.«
    »Sie sind ein ungewöhnlich nachsichtiger Mann«, meinte Stragos. »Bitte, verzichten Sie doch auf überflüssige Förmlichkeiten. Es genügt, wenn Sie mich mit ›Archont‹ ansprechen.«
    Es wurde leise an die Tür geklopft, durch die der Archont das Büro betreten hatte. »Ja, bitte«, rief dieser, und ein kleiner, kahlköpfiger Mann in aufwändiger blauer und silberner Livree kam hereingewuselt. Er trug ein silbernes Tablett, auf dem drei Trinkbecher aus Kristall und eine große Flasche mit einer bernsteingelben Flüssigkeit standen. Locke und Jean fixierten diese Flasche mit der Konzentration von Jägern, die sich anschicken, ihre letzten Speere auf irgendein angreifendes Tier zu schleudern. Als der Diener das Tablett abgesetzt hatte und nach der Flasche greifen wollte, winkte der Archont ihn zur Seite und übernahm selbst das Einschenken. »Geh«, befahl er. »Ich bin durchaus imstande, diese beiden bedauernswerten Herren zu bedienen.«
    Der Diener verneigte sich und entfernte sich lautlos. Stragos zog den bereits gelockerten Korken aus der Flasche und füllte zwei der Pokale bis zum Rand. Als Locke das feuchte Gurgeln und Plätschern hörte, zogen sich seine Wangen vor Erwartung schmerzlich zusammen.
    »In dieser Stadt ist es Sitte«, erklärte Stragos, »dass der Gastgeber als Erster trinkt … um zu beweisen, dass der kredenzte Trunk voller Vertrauen genossen werden kann.«
    Er goss zwei Fingerbreit des Getränks in den dritten Pokal, führte ihn an seine Lippen und trank ihn in einem Zug aus.
    »Ahh«, stöhnte er genüsslich, während er ohne weiteres Zögern die vollen Pokale zu Locke und Jean hinüberschob. »Bitte sehr. Trinken Sie aus. Zieren Sie sich nicht. Ich bin ein alter Kämpfer!«
    Locke und Jean waren keineswegs zimperlich; sie schütteten die angebotenen Getränke hemmungslos in sich hinein. Locke wäre es egal gewesen, wenn es sich um Saft aus gepressten Regenwürmern gehandelt hätte, doch tatsächlich war es eine Art Birnenwein, mit einem Hauch von Schärfe. Ein Kinderlikör, von dem nicht mal ein Spatz hätte betrunken werden können, und in Anbetracht ihres ausgedörrten Zustandes eine kluge Wahl. Der angenehm herbe, kühle Birnenwein linderte die Schmerzen in Lockes geschundenem Hals, und er erschauerte vor Wonne.
    Ohne Nachzudenken, hielten er und Jean ihrem Gastgeber die leeren Pokale entgegen, doch Stragos wartete schon mit der Flasche in der Hand. Milde lächelnd schenkte er nach. Locke stürzte ein halbes Glas hinunter, dann zwang er sich dazu, den Rest schlückchenweise zu trinken. Er fühlte sich bereits viel kräftiger, und vor Erleichterung stieß er einen Seufzer aus.
    »Vielen Dank, Archont«, sagte er. »Darf ich … äh … mir die Frage erlauben, auf welche Weise Jerome und ich Ihren Unmut erregt haben? Haben wir Sie vielleicht - versehentlich - beleidigt?«
    »Beleidigt? Keineswegs.« Immer noch lächelnd stellte Stragos die Flasche ab und nahm anschließend an dem kleinen Tisch Platz. Dann zog er an einer seidenen Kordel, die von der Wand hing; ein bernsteingelber Lichtstrahl fiel von der Decke und beleuchtete die Mitte des Tisches. »Sie haben lediglich meine Neugier geweckt, weiter nichts.«

3
     
     
    Eingerahmt von dem Fächer aus Licht saß Stragos da, und zum ersten Mal konnte Locke ihn eingehend mustern. Der Archont war ein Mann in späten mittleren Jahren, er musste an die sechzig sein, wenn nicht noch älter. Er besaß seltsam klar geschnittene, kantige Züge, hatte ein rosiges, wettergegerbtes Gesicht, und die grauen Haare saßen wie ein flaches Dach auf seinem Kopf. Lockes Erfahrung nach waren die meisten mächtigen Männer entweder Asketen oder unersättliche Vielfraße; Stragos schien in keine der beiden Kategorien zu passen, er wirkte maßvoll. Seine Augen blickten verschlagen, wie bei einem Wucherer, der einen verzweifelten Klienten vor sich hat. Locke nippte an seinem Birnenwein und betete um Weisheit.
    Die Glaszellen in den Wänden fingen das goldene Licht ein und reflektierten es,

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