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Sturm ueber roten Wassern

Sturm ueber roten Wassern

Titel: Sturm ueber roten Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Lynch
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und als Locke kurz den Blick schweifen ließ, bemerkte er zu seinem Schrecken, dass die Einschlüsse darin sich bewegten. Die kleinen flatternden Schatten entpuppten sich als Schmetterlinge, Motten und Käfer – die zu Hunderten, vielleicht zu Tausenden in ihren gläsernen Gefängnissen steckten. Das Büro des Archonten beherbergte in seinen Wänden die größte Insektensammlung, von der Locke je gehört hatte, geschweige denn, dass es ihm vergönnt gewesen wäre, sie mit eigenen Augen zu sehen. Neben ihm schnappte Jean nach Luft; offenbar hatte er dieselbe Entdeckung gemacht wie Locke. Der Archont gluckste vergnügt in sich hinein. »Meine Sammlung. Ist sie nicht beeindruckend?«
    Abermals streckte er die Hand aus und zog an einer anderen seidenen Kordel; hinter den Glaswänden breitete sich ein sanftes weißes Licht aus, bis sämtliche Einzelheiten jedes Exemplars deutlich sichtbar wurden. Es gab Schmetterlinge mit scharlachroten, blauen und grünen Flügeln … manche mit farbenfrohen Mustern versehen, die verschlungener waren als die kunstvollsten Tätowierungen. Man sah graue, schwarze und goldene Motten mit eingerollten Fühlern. Käfer mit glatten Panzern, die schimmerten wie Edelmetall, und Wespen mit durchsichtigen Flügeln, die über den unwahrscheinlich schmalen, spitz zulaufenden Körpern zuckten. »Das ist ja unglaublich!«, staunte Locke. »Wie können diese Tiere in den Glaswaben überleben?«
    »Oh, sie sind nicht lebendig, es handelt sich um Imitate -das Beste, was Künstler und Kunsthandwerker hervorbringen können. Ein paar Etagen tiefer befindet sich eine Maschine, die eine Reihe von Blasebälgen antreibt und Luftströme hinter die Wände dieses Büros fächelt. Jede Zelle hat an ihrer Rückseite eine winzige Öffnung. Das Flügelschlagen wirkt so realistisch, weil es dem Zufallsprinzip unterliegt … im Halbdunkel erkennt man so schnell nicht, dass die Insekten künstlich sind.« »Trotzdem ist es schier unglaublich«, meinte Jean.
    »Nun, dies ist die Stadt des Kunsthandwerks«, erwiderte der Archont. »Lebendige Wesen erfordern viel Pflege, die mitunter lästig wird. Betrachten Sie meinen Mon Magisteria als einen Hort des Artifiziellen. Aber bitte – trinken Sie aus, damit ich Ihnen noch den Rest aus der Flasche einschenken kann.«
    Locke und Jean leerten ihre Gläser, und Stragos füllte die Pokale nach, bis die Flasche leer war. Dann lehnte er sich auf seinem Platz hinter dem Tisch zurück und nahm etwas von dem Silbertablett – irgendeine schmale Akte, die in einem braunen Einband steckte, mit aufgebrochenen Wachssiegeln an drei Seiten.
    »Hier findet man eine Menge künstlicher Dinge. Lauter Sachen, die genauso unecht sind wie Sie, Meister Kosta und Meister de Ferra. Oder sollte ich sagen, Meister Lamora und Meister Tannen?«
    Wenn Locke die Kraft besessen hätte, einen Pokal aus schwerem Verrari-Kristall mit den bloßen Händen zu zerquetschen, hätte der Archont eines seiner kostbaren Trinkgläser verloren.
    »Ich bitte um Verzeihung«, murmelte Locke und setzte ein geziertes, leicht verwirrtes Lächeln auf. »Aber ich kenne keine Personen mit diesen Namen. Du vielleicht, Jerome?«
    »Da muss irgendwem ein Fehler unterlaufen sein«, sekundierte Jean, Lockes höflichen, verdutzten Tonfall perfekt nachahmend. »Nein, ein Irrtum ist ausgeschlossen, meine Herren«, widersprach der Archont. Er schlug die Akte auf und prüfte kurz den Inhalt, ungefähr ein Dutzend Pergamentseiten, mit akkurater, schwarzer Schrift bedeckt. »Vor ein paar Tagen erhielt ich über sichere Kanäle meines Geheimdienstes einen äußerst merkwürdigen Brief. Dieses Schreiben enthielt eine Sammlung einzigartiger Geschichten. Dieser Brief stammt von einer Person, mit der ich persönlich bekannt bin – einer Quelle innerhalb der Hierarchie der Soldmagier von Karthain.«
    Nicht einmal Jeans Pranken können einen Pokal aus Verrari-Kristall zersplittern, schoss es Locke durch den Sinn; andernfalls wäre ein Schauer aus Blutspritzern und Glasscherben über das Büro des Archonten niedergegangen.
    Gemächlich lupfte Locke eine Augenbraue; so schnell wollte er nicht klein beigeben. »Die Soldmagier? Bei den Göttern, das klingt ja unheimlich. Ich frage mich nur … was Soldmagier wohl mit mir und Jerome zu tun haben könnten?« Stragos strich sich mit der Hand über das Kinn, während er die Dokumente in der Mappe überflog. »Offenbar sind Sie beide Diebe irgendeiner geheimen Enklave, und früher befand sich Ihre

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