Sturm ueber roten Wassern
wir tatsächlich vergiftet wurden oder das Ganze nur eine Finte ist! Ich werde ihm seinen beschissenen Palast so tief in den Arsch schieben, dass er Steintürme anstelle von Mandeln hat!«
»Hast du schon eine Ahnung, wie das gehen soll?«
»Nein. Ich habe noch keinen blassen Schimmer. Aber ich werde darüber nachdenken, das ist verdammt sicher. Obwohl ich nicht versprechen kann, dass ich nicht einfach aus einem Impuls heraus handeln werde, um es diesem Scheißkerl heimzuzahlen!«
Jean brummte etwas in seinen Bart. Die beiden Männer drehten sich um und trotteten den Kai entlang in Richtung der Steintreppe, die in einem strapaziösen Anstieg auf die obere Terrasse der Insel führte. Locke massierte seinen Magen und spürte, wie er eine Gänsehaut bekam … irgendwie fühlte er sich vergewaltigt; ihm schauderte, wenn er sich vorstellte, dass irgendeine tödliche Substanz sich vielleicht unbemerkt in dem finstersten Winkel seines Körpers einnistete und nur darauf wartete, ihm Schaden zuzufügen.
Zu ihrer Rechten stieg die Sonne, ein glühendes Bronzemedaillon, über die Stadt und platzierte sich an deren Horizont wie einer der gesichtslosen Soldaten des Archonten, als wolle sie sie belauern.
R ückblick
Die Herrin des Glaspylons
1
Azura Gallardine war keine Frau, die man ohne Weiteres aufsuchen konnte. Gewiss, ihr Name war allseits bekannt (Zweite Herrin der Großen Gilde der Kunsthandwerker, Vermesser und Feinmechaniker), und jeder wusste, wo sie wohnte (Kreuzung Glasbiegerstraße und Allee der Zahnradfeiler, West Cantezzo, Vierte Terrasse, Kunsthandwerker-Ring), doch um dorthin zu gelangen, musste man vierzig Schritte weit vom Hauptfußgängerweg abweichen.
Diese vierzig Schritte glichen einem Spaziergang durch die Hölle.
Seit Lockes und Jeans Ankunft in Tal Verrar waren sechs Monate vergangen; die Persönlichkeiten von Leocanto Kosta und Jerome de Ferra hatten sich weiterentwickelt, und aus groben Entwürfen waren differenzierte Charaktere geworden, in die Locke und Jean schlüpften wie in eine zweite Haut. Der Sommer war fast zu Ende gewesen, als sie in einer Kutsche die Straße entlang gerattert waren, die in die Stadt führte, doch nun hatten die böigen Frühlingswinde die schweren, trockenen Winterstürme abgelöst. Man schrieb den Monat Saris, im achtundsiebzigsten Jahr von Nara, der Herrin der Pest und Lady der Tausend Krankheiten.
Jean saß auf einem Polstersessel im Heck eines gemieteten Skullboots, ein niedriges, schlankes Fahrzeug, das von sechs Rudergasten gepullt wurde. Wie ein flinkes Insekt glitt es über das kabbelige Wasser von Tal Verrars Hauptankergrund, wobei es sich, gesteuert von den gebrüllten Zurufen eines halbwüchsigen, im Bug kauernden Mädchens, geschickt zwischen den größeren Schiffen hindurchfädelte. Es war ein windiger Tag, und durch die hohe Decke aus Schleierwolken drang das bleiche Sonnenlicht, ohne jedoch Wärme zu spenden. Tal Verrars Hafen war gedrängt voll mit Frachtleichtern, Lastkähnen, kleinen Booten und den Großschiffen verschiedenster Nationen. Eine Flotte von tief im Wasser liegenden Galeonen aus Emberlain und Parlay hatte die Hecks mit den aquamarinblauen und goldenen Bannern des Königreichs der Sieben Ströme beflaggt. Ein paar hundert Yards weiter sah Jean eine Brigg unter der weißen Flagge von Lashain, und dahinter eine Galeere mit dem Banner der Sieben Ströme über dem kleineren Wimpel des Kantons Balinel, der nur wenige hundert Meilen weiter nördlich an der Küste lag. Jeans Skullboot bog um die Südspitze des Halbmonds der Händler, eine von drei sichelförmigen Inseln, welche die im Zentrum der Stadt gelegene Castellana umgaben wie Blütenblätter das Herz einer Blume. Sein Ziel war der Kunsthandwerker-Ring, die Heimstatt der Frauen und Männer, die die Kunst der Feinmechanik von einem exzentrischen Hobby zu einer blühenden Industrie erhoben hatten. Mechanische Geräte aus Tal Verrar waren präziser, raffinierter und haltbarer -einfach in jeder Hinsicht besser – als alles, was auf diesem Gebiet von nur einer Handvoll Meister in der ganzen übrigen Welt hergestellt wurde.
Es war schon seltsam, doch je länger Jean in Tal Verrar lebte, je besser er diesen Ort kennenlernte, umso befremdlicher kam er ihm vor. Jede Stadt, die auf den Ruinen der Eidren errichtet wurde, entwickelte ihren typischen, einzigartigen Charakter, der sich häufig allein durch Form und Natur dieser Ruinen ergab. Die Camorri hausten auf Inseln, die lediglich
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