Sturm ueber roten Wassern
Küstenstraßen heranrollten, und den vielen Vergnügungsschiffen, welche von See aus eintrafen, zog Salon Corbeau eine weitere Form von Verkehr an, über den Locke während seiner Reise trübsinnig nachgedacht hatte.
Gruppen von zerlumpten Bauern und Bettler aus städtischen Elendsvierteln oder armen ländlichen Gebieten trotteten schleppenden Schrittes die staubigen Straßen entlang, die zu Lady Saljescas Domäne führten. Mit Unterbrechungen, aber in einer dennoch nie endenden Prozession, pilgerten sie zu der seltsamen privaten Stadt unter dem finster aufragenden Berg.
Locke bildete sich ein, dass er bereits wüsste, aus welchem Grund diese Leute nach Salon Corbeau wanderten; doch schon in den nächsten Tagen bemerkte er zu seinem Entsetzen, dass die Wirklichkeit seine Vorstellung bei weitem übertraf.
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Ursprünglich hatte Locke gedacht, dass eine Seereise nach Lashain oder sogar Issara nötig sein würde, um seinen Plan bezüglich des Sündenturms zu komplettieren, doch nach Gesprächen mit mehreren wohlhabenden Verrari war er davon überzeugt, dass er in Salon Corbeau genau das finden konnte, was er brauchte.
Man stelle sich ein am Meer gelegenes Tal vor, das von nachtschwarzen Felsen umgeben ist, ungefähr dreihundert Yards lang und einhundert breit. An der Westseite befindet sich der kleine Hafen mit einem sichelförmigen Strand aus feinem schwarzem Sand. Am östlichen Ende tritt aus einer Felsspalte ein unterirdischer Fluss ins Freie und rauscht stufenförmig angeordnete Gesteinsblöcke hinunter. Die Landzunge oberhalb dieses Katarakts wird gekrönt von Lady Saljescas Residenz, einem aus Stein gebauten Gutshaus im Schutz einer mit Zinnen versehenen doppelten Mauer – eine kleine Festung.
Die Talwände von Salon Corbeau ragen circa zwanzig Yards in die Höhe und sind beinahe vollständig mit Terrassengärten überzogen. Dort gedeihen üppige Farne, sich schlängelnde Ranken, blühende Orchideen sowie Obst- und Olivenbäume, ein dichter Vorhang aus Braun und Grün, der in krassem Gegensatz zu den kahlen schwarzen Wänden der Umgebung steht; schmale Wasserkanäle sorgen dafür, dass Saljescas künstliches Paradies keinen Durst leidet.
Exakt in der Talmitte befindet sich ein kreisrundes Stadion, und die Gärten zu beiden Seiten dieser steinernen Struktur teilen sich ihre Umfassungsmauern mit mehreren Dutzend massiven Gebäuden aus poliertem Stein und lackiertem Holz. Eine entzückende Miniaturstadt ruht auf Stelzen, Plattformen und Terrassen, in jeder Höhe von Gehwegen und Treppen durchzogen.
Gleich an seinem ersten Nachmittag in Salon Corbeau spazierte Locke diese Gehwege entlang und suchte in aller Ruhe nach seinem Ziel – er rechnete mit einem Aufenthalt von etlichen Tagen, wenn nicht gar Wochen. Wie die Spielkasinos in Tal Verrar, so zog auch Salon Corbeau reiche Müßiggänger in großen Scharen an. Locke flanierte zwischen Verrari-Kaufleuten und Lashani-Aristokraten, fand sich unter Sprösslingen aus dem Reich der Sieben Ströme wieder, ging vorbei an Hofdamen von Nesse, die von ihren stoffreichen Gewändern aus schwerem Goldbrokat beinahe niedergedrückt wurden, und den Familien von Landbesitzern, denen sie dienten. Er war sich sicher, dass er hier und da auch einen Camorri erspähte, hochnäsig und mit olivfarbenem Teint, doch zum Glück war niemand dabei, der ihn hätte erkennen können.
So viele Leibwächter und so viele Leiber, die es zu beschützen galt! Gepflegte Körper und gepflegte Gesichter; Leute, die sich die richtige Alchemie und Medizin für ihre Gebrechen leisten konnten. Keine eiternden Wunden oder entstellenden Gesichtstumore, keine schiefen Zähne, die in blutenden Gaumen wackelten, keine spitzen, ausgemergelten Züge.
Das Publikum im Sündenturm mochte exklusiver sein, aber diese Leute waren noch kultivierter, noch verwöhnter. Einige hatten Musiker engagiert, die ihnen auf Schritt und Tritt folgten, damit selbst auf Wegen von dreißig bis vierzig Yards keine Sekunde Langeweile aufkam. Rings um Locke verpulverten reiche Männer und Frauen ihr Geld zu den Klängen von Musik. Selbst jemand wie Mordavi Fehrwight gab in einem vollen Monat weniger für Essen und Trinken aus, als einige dieser Verschwender es sich kosten ließen, bei ihrem täglichen Frühstück aufzufallen.
Wegen dieser Menschen war er nach Salon Corbeau gekommen; ausnahmsweise nicht, um sie auszurauben, sondern um sich ihren privilegierten Lebensstil zunutze zu machen. Wo die Vermögenden sich wie
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