Sturm über Sylt
Ludwig nahe sein, um wenigstens für ein paar Stunden alles andere vergessen zu können.
»... Schau im Traum ’s Paradies!«
VII.
Sylter Kriegsblatt: Brüssel hat kapituliert! Die belgische Armee zieht sich nach Antwerpen zurück! Die 1. und 2. Armee der Russen beginnt mit dem Vormarsch nach Ostpreußen, aber der angreifenden 1. russischen Armee ist es nicht gelungen, ihre Anfangserfolge fortzusetzen. Die Deutschen konnten starke Einheiten von der Front um Gumbinnen abziehen, um sich den Russen entgegenzustellen. Paul von Hindenburg übernimmt nun das Kommando!
Pfarrer Frerich kam täglich ins Haus, meist mit dem »Kriegsblatt« in der Hand, mindestens einmal, manchmal erschien eram Ende eines Tages auch noch zum Abendessen, das er dann mit dem Hauptmann und dem Leutnant zusammen einnahm. »Ich muss ein Auge auf euch haben«, sagte er zu Insa und Aletta und lachte, damit sie glaubten, dass er einen Scherz machen wollte. Und wenn keine von ihnen in sein Lachen einstimmte, ergänzte er: »Bis ihr euch wieder aneinander gewöhnt habt, braucht ihr jemanden, der euch beisteht.«
Es war am 1. September, der erste Kriegsmonat war überstanden, als Aletta den Pfarrer fragte: »Haben Sie früher auch meiner Mutter beigestanden? Hat sie oft Hilfe gebraucht?«
Frerich sah sie argwöhnisch an. Er spürte, dass ihre Frage im Schatten einer ganz anderen daherkam. »Es ist meine Aufgabe, jedem Schäfchen zu helfen«, antwortete er steif und würdevoll und beobachtete Aletta dabei sehr genau.
»Allen Schäfchen gleich? Oder hat es Schäfchen gegeben, die ihnen besonders lieb waren?«
Pfarrer Frerich schien eine Ahnung anzufliegen, was Aletta meinen könnte. »Aletta! Mein Kind!«, rief er konsterniert. »Was willst du damit sagen?«
Aletta starrte ihn an. Mein Kind! Das sagte er häufig zu ihr, das hatte er auch schon früher gesagt. Aber so nannte er auch andere, die ihm am Herzen lagen. So hatte er sie sogar genannt, als sie ihn nach der Beichte verlassen hatte, um von der Insel zu fliehen.
Es entstand ein kurzes Schweigen zwischen ihnen, das Aletta mit dem Aufgießen des Tees und der Pfarrer mit der Beobachtung einer Stubenfliege füllten. Dieses Schweigen rückte ihn von ihr ab, drängte sie gleichzeitig zu ihm hin, veränderte in einer Sekunde alles und in der nächsten nichts. Sein Haarbüschel über der Stirn fühlte sie auf ihrer eigenen, das Räuspern, mit dem er zeigte, dass er sich unbehaglich fühlte, steckte plötzlich in ihrer eigenen Kehle. Als sie jedoch aufsah, weil es an der Tür geklopft hatte, war die Distanz größer als vorher.
»Ich gehe öffnen.«
Vor der Tür stand ein Mann von Mitte vierzig, in der Uniform eines Gefreiten, die Mütze in der Hand. Er war mittelgroß, schlank, aber von kräftiger Statur. Sein breites, kantiges Gesicht wirkte sehr männlich, jedoch freundlich. Als er lächelte, legte er blendend weiße Zähne frei, und in seinen braunen Augen funkelte das Vergnügen.
»Reik Martensen«, stellte er sich vor und schlug die Hacken zusammen. »Der Inselwache zugeteilt!«
Aletta lächelte freundlich. »Sie wünschen?«
Das Zackige fiel prompt von ihm ab, er wurde von einer Sekunde auf die andere Privatmann. »Ich möchte Frau Lornsen einen Besuch abstatten, wenn’s recht ist. Insa Lornsen. Wenn sie überhaupt noch so heißt und ... wenn sie noch hier wohnt ... wir haben uns lange nicht gesehen. Aber der Name Lornsen steht noch am Haus, da dachte ich ...«
Aletta öffnete die Tür weiter. »Bitte treten Sie ein. Ja, meine Schwester wohnt noch hier. Und sie heißt noch immer Lornsen.«
Der Gefreite machte einen Schritt ins Haus hinein, dann stockte er. »Schwester? Als ich Sylt verließ, war Insa das einzige Kind der Lornsens.«
Aletta lächelte. »Ich bin das, was man ein Nesthäkchen nennt.«
Sie ging Reik Martensen voran und öffnete die Küchentür. »Der Pfarrer ist zu Besuch. Vielleicht kennen Sie sich noch?«
»Pfarrer Frerich?« Reik Martensen trat in die Küche, und sein Gesicht strahlte vor Freude. »Immer noch im Dienst, Herr Pfarrer?«
Er ließ Frerich kaum Zeit, sich zu erheben, streckte ihm schon die Hand hin, während der Pfarrer sich noch in die Höhe wuchtete, und lachte ihn so lange an, bis er schließlich ein Lächeln erntete. »Verdammt lang her! Finden Sie nicht auch?«
Pfarrer Frerich stotterte, als fiele ihm erst jetzt ein, wen er vor sich hatte. »Das dürfte siebenundzwanzig Jahre her sein.«
Martensen war verblüfft. »Exakt! Ihr Gedächtnis ist
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