Sturm über Sylt
phänomenal, Herr Pfarrer!«
Aletta bewegte sich zur Küchentür. »Ich hole Insa. Sie macht die Betten der Gäste. Wir haben Einquartierung. Wie fast alle ...«
Sie erschrak heftig, als sie die Tür zum Anbau öffnete, weil sie sie Insa beinahe an den Kopf geschlagen hätte. Ihre Schwester stand hinter der Tür, an die Wand gelehnt, und starrte sie an, als hätte sie vor irgendetwas Angst.
»Insa! Was ist los?«
Insa öffnete den Mund, als wollte sie antworten, brachte aber keinen Laut hervor. Sie blieb stehen, wie sie stand, anscheinend unfähig, sich zu rühren.
»Insa! Geht’s dir nicht gut?«
Nun kehrte das Leben so jäh in ihre Schwester zurück, als wollte sie etwas ungeschehen und einen Eindruck zunichtemachen. Sie stieß sich von der Wand ab, machte hastig einen Schritt auf die Tür von Hauptmann Hüttens Zimmer zu, wirbelte dann herum und ging auf die Tür zu, durch die Aletta soeben den Verbindungsgang betreten hatte. Aber als sie die Hand auf die Klinke legte, sah sie aus, als wollte sie schon wieder herumfahren.
»Es ist Besuch gekommen«, sagte Aletta leise und legte beruhigend eine Hand auf Insas Arm.
Aber Insa schüttelte ihre Hand ab, wie sie ihre Schwester schon hundertmal abgeschüttelt hatte.
Diesmal jedoch wurde Aletta von der Zurückweisung nicht verletzt. »Geh nur, ich mache die Zimmer fertig.«
Insas Atem ging stoßweise. »Nur noch Betten machen. Alles andere ist erledigt.«
»Ich kümmere mich darum.«
Insa riss die Tür auf, so dass sie an die Wand schlug. Genau an die Stelle, an der sie kurz vorher gestanden hatte. Sie machte ein paar heftige Schritte in Richtung Küchentür, dann zögerte sie. Aletta sah, wie sich ihr Rücken krümmte und ihre Finger sich in die Schürze krallten. Als sie verschwunden war, blieb Aletta noch lange in der offenen Tür stehen und lauschte auf die Stimmen,die aus der Küche drangen, von der sie jedoch keine einzige verstehen konnte.
Nachdenklich betrat sie das Zimmer von Hauptmann Hütten. Das Bett war längst gemacht. Aletta sah sich um. Auch sonst war alles sauber und an seinem Platz. Sie trat ans Fenster und stellte fest, dass von dort ein Teil der Straße zu überblicken war. Hatte Insa den Gefreiten gesehen, bevor er angeklopft hatte? Dann waren ihre Spannung und ihre Unruhe damit zu erklären. War sie etwa einer alten Liebesgeschichte ihrer Schwester auf die Spur gekommen?
Aletta strich die Bettdecke glatt und verließ das Zimmer, um Insa in die Küche zu folgen.
Die Stimme des Pfarrers war die lauteste. Sie war mühelos durch die geschlossene Küchentür zu verstehen.
»Wie geht’s der Familie, Reik? War es wirklich richtig, dass ihr damals die Insel verlassen habt?«
Reik Martensen hatte eine angenehme Stimme, dunkel und wohltönend. Bariton, dachte Aletta. Sie war sicher, dass er auch eine schöne Singstimme hatte.
»Sie wissen ja ... meine Mutter musste den Geflügelhof ein gutes Jahr allein führen. Als mein Vater ging, wusste niemand, dass sie schwerkrank war. Sie selbst auch nicht. Als er zurückkam, lag sie schon auf dem Sterbebett. Und mein Bruder war eine Woche vorher tödlich verunglückt.«
Pfarrer Frerich gab ein Stöhnen von sich. »Eine Tragödie!«
»Mein Bruder hatte den Geflügelhof übernehmen sollen, so war es abgemacht«, fuhr Reik Martensen fort. »Ich hatte ja schon meine Bäckerlehre begonnen. Mit den Gänsen und Enten wollte ich nichts zu tun haben. Wenn bei uns geschlachtet wurde, bin ich immer weggelaufen.«
Der Pfarrer lachte, von Insa war kein Laut zu hören. Aletta fühlte sich in der Rolle der Lauschenden nicht wohl, hatte aber das Gefühl, dass sich etwas ändern könnte, wenn sie das Gesprächunterbrach, dass sie den Fluss aufhalten würde, der gerade zu strömen begonnen hatte, und dass es nicht gut war, wenn sie das Gespräch in eine andere Richtung führte.
»Da hat Vater den Geflügelhof verkauft«, fuhr die Stimme von Reik Martensen fort. »Er wollte zu seiner Schwester aufs Festland. An nichts mehr erinnert werden! Das alte Leben vergessen! Zum Glück habe ich dort ohne weiteres eine Lehrstelle gefunden, so ging alles ganz schnell. Einen Tag nachdem ich den Gesellenbrief erhalten hatte, starb dann mein Vater. Mich zog nichts nach Sylt zurück. Ich habe angeheuert und bin drei Jahre als Schiffskoch durch die Welt geschippert. Bäcker oder Koch, auf See ist das kein großer Unterschied.« Nun veränderte sich seine Stimme, sie war nicht mehr so klar, er redete leiser, als fiele es ihm schwer,
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