Sturmauge
so sah es mein Vater«, sagte Vesna traurig.
»Ich denke, ich kann mir den Rest der Geschichte denken«, erwiderte Mihn, der noch immer geradeaus blickte.
»Wer sagt denn, dass es noch mehr zu erzählen gibt?«
»Es gibt noch mehr.«
»Woher weißt du das?« Vesnas Stimme klang misstrauisch. Mihn hatte so etwas an sich: Man konnte in seinen Worten einen unausgesprochenen Tadel hören, wenn man sich schon schuldig fühlte.
»Ich weiß es, weil Ihr es wisst, und ich kenne solche Geschichten. Sie werden nicht ohne Grund erzählt. Aber zuerst der Abschluss der Geschichte: Euer Vater starb, und Ihr erfuhrt davon, als Ihr von Eurer Reise zurückkehrtet. Hätte der alte Mann gewartet, so wäre er vielleicht heute noch am Leben. Wenn ein Rüpel den Vater eines Mannes tötet, der zum Helden bestimmt ist, dann wird er dafür zur Rechenschaft gezogen, und davon wollt Ihr mir berichten.«
Vesna nickte zu Mihns Worten. »Er war der erste Mann, den ich tötete.«
»Ihr wart fort, um im Kampf geschult zu werden? Er sah wahrscheinlich noch das Kind in Euch, das Ihr einst wart. Wie viele Streiche waren nötig?«
»Drei.«
Mihn schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Und warum erzählt Ihr mir davon?«
Vesna seufzte. »Ehre kann einen umbringen. So etwas geschieht, wenn man zu lange versucht, sie zu wahren.«
»Und doch gibt es mehr als das im Leben – manchmal muss man Stellung beziehen, auch wenn man den Preis ganz genau kennt. Euer Vater wusste das. Er wollte, dass diejenigen, die er seine Familie nannte, auch wissen sollten, dass sie ihm mehr wert waren als sein eigenes Leben.«
»Bei der Verteidigung derer, die du Familie nennst«, sagte Vesna mit fernem Blick.
»Ich höre da eine Frage heraus.«
»Ja. Wen zählst du zu deiner Familie?«
Mihn sprach so leise, dass Vesna nicht sicher war, ihn richtig
zu verstehen: »Jene, für die ich zu opfern bereit bin – denen ich an den Dunklen Ort folgen würde, wenn es nötig ist.«
Die beiden Männer schwiegen. Nur das Hufgeklapper auf den Kopfsteinen der Straße und Vesnas Atemzüge störten die Ruhe. Minuten verstrichen, und Vesna dachte noch immer über das Gespräch nach, als er plötzlich ein Geräusch hörte – vielleicht das Kratzen einer Schindel. Beide Männer drehten sich sofort um. Vesna griff nach hinten zu der Armbrust, die an seinem Sattel hing.
Er hatte die Waffe vor ihrem Aufbruch gespannt. In der Nacht gab es wenig Zeugen und einige der Dinge, die sich in den Straßen herumtrieben, wären nicht damit zufrieden gewesen, sie nur auszurauben. Es gab Wasserspeier und Colprys, die einen Menschen angriffen, auch wenn solche Angriffe selten waren. Gruppen wütender Pönitenten zogen durch die Straßen.
»Kannst du etwas sehen?«, fragte Vesna leise und legte einen Bolzen ein.
»Nein, aber was sich da auf dem Dach auch befinden mag, wir müssen es wohl gar nicht sehen«, sagte Mihn und drehte den Kopf, um genauer hinzuhören. »Kein Mensch würde in dieser Kälte da oben herumlaufen, und ich glaube nicht, dass ein Tier zwei Männer auf Pferden angreifen würde.«
Vesna starrte weiterhin auf die dunklen Häuser, aber bis auf das Klappern der Hufe war nichts zu hören. »Wenn du es sagst.« Er drehte sich wieder um, blickte ihren Weg entlang, ließ die Armbrust aber vor sich auf dem Sattel liegen.
Das Bordell war ein großes, befestigtes Gebäude, das an die Mauer gebaut war. Der Stadtrat hatte es während der Friedenszeiten vermietet, und von der jetzigen Unruhe wurde es vermutlich nicht betroffen. Es war gut zu verteidigen und erfüllte die Wünsche der Adligen, so dass man genug Geld für Wachen hatte, auch wenn die meisten Kunden ohnehin bewaffnet waren.
»Sind wir in der Nähe von Tods Gärten?«, fragte Mihn und wies nach rechts.
»Ja, ich glaube schon.« Vesna drehte sich mit nachdenklichem Gesichtsausdruck im Sattel um und musterte die nach Süden führenden Straßen. »Ja, sie liegen in dieser Richtung, hinter dem Schrein des Wilderermondes.« Er wies die Straße hinab.
Tods Gärten , das war der Name eines kleinen öffentlichen Parks, der im Besitz des Kultes von Tod stand. Jede der drei Seiten war weniger als zweihundert Schritt lang. Der Großteil wurde von uralten, gepflegten Eiben eingenommen, und in der Mitte befand sich ein kleiner Teich, in dem – ohne dass Vesna einen Grund dafür erkennen konnte – zwei Hechte lebten, die von den Priestern Tods gefüttert wurden. Ehla, die Hexe von Llehden, und der Halbgott Fernal hatten die
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