Sturmbringer
vielen Jahrhunderten gewesen war. Imrryr, die Stadt, wie er sie gekannt hatte, ehe er den Angriff auf sie befahl und ihre Vernichtung herbeiführte. Dieselbe Stadt, doch irgendwie mit einem anderen, helleren Aussehen, als wäre sie neu errichtet. Im gleichen Maße wirkten die Farben der Landschaft ringsum tiefer, die Sonne ein dunkleres Orange, der Himmel dunkelblau und düster. Seither, so ging ihm nun auf, waren die Farben mit dem Alterwerden des Planeten verblaßt...
Menschen und Tiere bewegten sich durch die strahlenden Straßen; große, märchenhafte Melniboneer schritten anmutig aus wie stolze Tiger, Sklaven mit starren Gesichtern und hoffnungslos blickenden Augen, langbeinige Pferde von einer Art, wie sie längst ausgestorben war, junge Mastodons, die bunte Wagen zogen. Der Wind trug die geheimnisvollen Düfte dieser Welt klar herbei, die leisen Laute geschäftigen Treibens - alles gedämpft, denn die Melniboneer haßten Lärm so sehr wie sie Harmonien liebten. Schwere Seidenbanner bauschten sich auf den funkelnden Türmen aus Blaubasalt, Jade, Elfenbein, Kristallmasse und poliertem rotem Granit. Und Elric drehte sich im Schlaf und spürte die Sehnsucht, sich unter seinen Vorfahren zu bewegen, dem goldenen Volk, das die alte Welt beherrscht hatte.
Riesige Galeeren glitten durch das Wasserlabyrinth, das den Zugang zu Imrryrs Innenhafen bildete; sie brachten die beste Beute der Welt, Steuern, die in allen Teilen des Strahlenden Reiches erhoben worden waren. Und am azurblauen Himmel flogen Drachen gemächlich zu den Höhlen, in denen viele tausend Artgenossen hausten, anders als in der Gegenwart, da nur noch knapp hundert existierten. Im höchsten Turm, im Turm von B'all'nezbett, dem Turm der Könige, hatten seine Vorfahren Zauberkräfte studiert, ihre gefährlichen Versuche durchgeführt und ihren sinnlichen Leidenschaften gefrönt - nicht auf dekadente Weise, wie es die Menschen der Jungen Königreiche wohl getan hätten, sondern ihren natürlichen Instinkten folgend.
Elric wußte, daß er hier den Geist einer längst gestorbenen Stadt erblickte. Und er schien durch die schimmernden Mauern des Turms zu gleiten und seine herrschenden Vorfahren in Gespräche vertieft zu sehen, die von Rauschgiften angeregt waren, elegisch und sadistisch, Dämonenfrauen beschliefen, raffinierte Folterqualen ersannen, den besonderen Metabolismus und die Psychologie der versklavten Rassen untersuchend, mystische Überlieferungen studierend, ein Wissen anhäufend, das in späterer Zeit nur wenige Menschen übernehmen konnten, ohne den Verstand zu verlieren.
Aber es lag auf der Hand, daß dies entweder ein Traum war, oder die Vision einer jenseitigen Welt, in der die Toten aller Zeitalter lebten, denn hier fanden sich Herrscher zahlreicher verschiedener Generationen versammelt. Elric erkannte sie von ihren Porträts: Rondar IV. mit seinen schwarzen Locken, der zwölfte Herrscher; Elric I. mit scharfen Augen und hochherrschaftlichem Gehabe, der achtzehnte Herrscher; der von Schrecknissen belastete Kahan VII. der dreihundertundneunundzwanzigste Herrscher. Ein Dutzend oder mehr der mächtigsten und klügsten seiner vierhundertundsiebenundzwanzig Vorfahren, darunter auch Terhali, die Grüne Herrscherin, die in den Jahren 8406 bis 9011 seit der Gründung über das Strahlende Reich geherrscht hatte. Ihre Langlebigkeit und ihre grünliche Haut und grünen Haare hatten sie hervorgehoben. Sie war selbst für melniboneische Verhältnisse eine mächtige Zauberin gewesen. Angeblich war sie aus einer Verbindung zwischem dem Herrscher Iuntrix X. und einer Dämonenfrau hervorgegangen.
Elric, der dies alles gewahrte, als befände er sich in einem abgedunkelten Winkel des großen Hofsaals, sah wie die schimmernde Tür aus schwarzem Kristall aufging und ein Neuankömmling eintrat. Er fuhr zusammen und versuchte erneut erfolglos aufzuwachen. Der Mann war sein Vater, Sadric der Sechsundachtzigste, ein großer Mann mit Augen, über denen schwere Lider lagen, und belastet von einem ewigen Kummer. Er schritt durch die Menge, als gebe es sie nicht. Er kam direkt auf Elric zu und blieb zwei Schritte vor ihm stehen. Er musterte ihn unter schweren Lidern, unter der vorspringenden Stirn hervor. Er war ein hagergesichtiger Mann, der sich über seinen Albinosohn besonders enttäuscht gezeigt hatte. Er hatte eine lange spitze Nase, breite Wangenknochen und ging wegen seiner ungewöhnlichen Grö- ße leicht gekrümmt. Er betastete den dünnen Samt seiner Robe
Weitere Kostenlose Bücher