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Sturmflut mit Schokoladenengel

Sturmflut mit Schokoladenengel

Titel: Sturmflut mit Schokoladenengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dora Tauer
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dachte? Das konnte doch nicht normal sein!
    Seine grauen Augen glänzten erwartungsvoll. „Gib mir etwas Bedenkzeit, Jens“, sagte ich endlich.
    „Aber selbstverständlich, Greta.“ Wenn er enttäuscht war, so verbarg er es meisterhaft. „Und wann darf ich mit deiner Antwort rechnen, Greta?“
    „In einer Woche.“ Ich entzog ihm meine Hand. „Bis nächsten Samstagabend.“

    *

    Und dann kam jener Montag. „Herr Grals bitte“, rief ich am späten Vormittag einen Patienten ins Sprechzimmer, dessen Name ich noch nie gehört hatte. Ich stutzte und warf einen zweiten Blick auf die Patientenkarte, die Frau Busch mir gereicht hatte: Tatsächlich – der Mann kam zum ersten Mal in meine Sprechstunde: Pit Grals, neununddreißig Jahre alt, Freiberufler ...
    Pit ...?
    Ich hielt den Atem an. Doch nicht der Paketmann?
    Da kam er auch schon aus dem Wartezimmer auf mich zu: Groß, blass, ausgeprägte, weiche Gesichtszüge; seine Augen waren ernster als sonst. Ich erkannte ihn nicht gleich, weil er das Haar offen und ein dunkles Jackett über hellen Leinenhosen trug.
    Ich senkte den Blick, trat schnell zur Seite und ließ ihn voraus ins Sprechzimmer gehen. In mir stritt sich mein Ärger mit einer Erregung, die ich mir selbst nicht erklären konnte.
    Als ich hinter meinem Schreibtisch in meinen Sessel sank, hatte ich mich wieder ganz und gar in der Hand. Ich blickte auf den Monitor – Frau Busch hatte mir eine Patientendatei für Pit Grals angelegt – und erkundigte mich kühl nach seinen Beschwerden.
    Er litt unter Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und Herzbeschwerden, und das seit längerem. Außerdem fühlte er öfter mal einen leichten Schwindel. Ich maß ihm den Blutdruck und den Puls, tastete nach seiner Schilddrüse, guckte ihm in den Hals, hieß ihn Jackett und Hemd auszuziehen, um seine Wirbelsäule untersuchen und ein EKG schreiben zu können.
    Ganz Ärztin war ich, ehrlich. Natürlich sah ich, dass ein attraktiver Mann auf meiner Liege lag; ich bin ja nicht blind.
    „Alles bestens“, sagte ich, während ich den EKG-Streifen zusammenfaltete. „Keine auffälligen Befunde, jedenfalls keine körperlichen.“
    „Ich brauche weiter nichts als ein leichtes Beruhigungsmittel“, erklärte er, während er sich wieder anzog.
    „Sie brauchen Urlaub“, antwortete ich. „Sie haben ein typisches Erschöpfungssyndrom. So etwas sehe ich leider immer öfter hier in der Praxis.“
    „Urlaub?“ Er zog sich das Jackett an und grinste müde. „Sie machen sich keine Vorstellung davon, wie viel Arbeit ich habe.“
    „Bei UPS?“ Ich runzelte die Stirn und betrachtete sein Gesicht. Ein ausdrucksstarkes Gesicht mit weichen, sinnlichen Zügen. Ein schöner Mann, wahrhaftig. Und dann diese hellblauen Augen! Zum ersten Mal machte ich mir klar, dass der Job bei UPS gewöhnlich von jüngeren Männern erledigt wird.
    „Das ist nur mein Brotjob“, sagte er, „meinen eigentlichen Beruf übe ich nachts und am Wochenende aus.“
    Er verriet nicht, von welchem Beruf er da sprach. Als Ärztin hätte ich ihn einfach fragen können, ja, fragen müssen. Wahrscheinlich wollte ich möglichst wenig Persönliches über ihn erfahren, wollte die kühle Distanz ihm gegenüber um keinen Preis aufgeben – wollte „die Kontrolle behalten“, wie Linda sich ausgedrückt hätte.
    Absurd! Heute weiß ich: Die pure Angst ritt mich, die Angst vor meinen Gefühlen.
    Ich verbot ihm Kaffee, Alkohol, Zigaretten und verschrieb ihm ein pflanzliches Beruhigungsmittel, mit dem ich gute Erfahrungen gemacht hatte. Dann gingen wir zur Tür – und griffen aus irgendeinem Grund gleichzeitig zur Klinke.
    Ich wollte meine Hand zurückziehen, doch er hielt sie fest. Ich wollte ein empörtes Gesicht machen, doch ich konnte nur hilflos zu diesen märchenhaft blauen Augen hinaufschauen. Ich wollte protestieren, ihm irgendeine Unfreundlichkeit an den Kopf werfen, doch mir fiel nichts ein. Es gab einfach nichts zu sagen.
    Er zog meine Hand zu sich, zeichnete mit den Fingerbeeren langsam meine Handknochen nach, strich über meine Adern, meine Fingerknöchel bis hin zu meinen Nagelbetten. Dann hob er meine Hand an seine Lippen und küsste meinen Handrücken.
    Das alles tat er so langsam, so konzentriert und mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass ich ganz fasziniert war und wie festgewachsen vor ihm stand. Und still hielt.
    Ich hielt auch still, als seine Fingerbeeren über meine Brauen und meine Wangenknochen strichen; und schließlich über

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