Sturmflut mit Schokoladenengel
mich. Fast kam es mir vor, als hätte er auf mich gewartet.
„Guten Tag, Frau Dr. Ballhaus.“ Wieder diese weiche, wohlklingende Stimme. Wieder diese selten blauen Augen. Ich wich seinem Blick aus, gab mich kühl. Beachte ihn einfach nicht , sagte ich mir und verschwand in meinem Sprechzimmer.
Ein vernünftiger Vorsatz. Sein Ergebnis: Jedes Mal, wenn ich die Tür meines Behandlungszimmers öffnete, erwartete ich, ihn vor der Rezeption stehen zu sehen; jedes Mal glaubte ich, seine Stimme zu hören.
Was war los mit mir?
Zwei Tage später, am Freitag, tauchte er zum dritten Mal auf. Mit einer Medikamentensendung. Ich öffnete die Sprechzimmertür, um einen Patienten hinauszulassen, als ich sah, wie Tina ihm ihr Schulheft zeigte. Der Mann wandte sich um, als er meine Stimme hörte und lachte mich an. Etwas durchfuhr mich heiß.
Schneller als sonst schloss ich die Sprechzimmertür. Dieser Kerl versuchte doch tatsächlich mit mir flirten! Ich schimpfte vor mich hin. „Ein Paketbote – unglaublich!“
Ich konnte mir meine heftigen Gefühle selbst nicht recht erklären, schob sie auf die Aufdringlichkeit des Paketboten; dabei machte er eigentlich nur seinen Job. Dennoch: Je öfter ich an ihn dachte, desto wütender wurde ich. Oder wuchs meine Wut, weil ich merkte, wie oft ich an ihn dachte?
Am Spätnachmittag, nach dem letzten Patienten, wählte ich die Nummer der Anwaltskanzlei Kanter und ließ mich verbinden. Bis jetzt hatte ich die Antwort auf Jens’ Einladung vor mir her geschoben. Das Gewissen schlug mir.
Seine Stimme meldete sich. „Hallo, Jens – herzlichen Dank für die wunderschöne Orchidee.“
„Eine edle Blume für eine edle Frau“, sagte er.
Ich wäre keine Frau, wenn ich diese Art der Verehrung nicht genossen hätte. „Und danke für die Einladung. Tut mir leid, dass ich jetzt erst reagieren kann. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es in meiner Praxis zugeht in dieser Woche!“
„Das tut mir leid, Greta. Hauptsache, ich höre deine Stimme überhaupt noch, bevor das Wochenende beginnt.“ Das ging mir hinunter wie ein Spitzenwein. „Sehen wir uns denn morgen Abend?“, wollte er wissen.
Ich spürte das leichte Beben in seiner Stimme, die hintergründige Bangigkeit. „Sicher, Jens. Ich nehme deine Einladung gern an. Ich freu’ mich.“
Komme es, wie es kommen mag , dachte ich, als ich auflegte, jetzt machen wir Nägel mit Köpfen .
Am Abend reichte Tina mir ihr Mathematikheft. „Schau mal, Mama. Wie findest du das?“
Ich sah eine Zeichnung. Ganzseitig. Im Matheheft! Dass sie nicht von Kinderhand stammen konnte, sah ich auf den ersten Blick. Verblüfft betrachtete ich sie.
Die Zeichnung zeigte eine Frau, die auf einem großen Stuhl saß, einer Art Thron. Die Frau war deutlich als kühle Schönheit dargestellt. Welcher Erwachsene auch immer Tinas Matheheft missbraucht hatte, er verstand etwas vom Zeichnen. Die Frau auf dem Thron hielt eine Kugel in der Hand, und zu ihren Füßen hockte ein merkwürdiges, mit braunem Fineliner schattiertes Tier. Mir schwante Böses.
„Das ist die Prinzessin aus dem Froschkönig. Erkennt man sofort, nicht wahr?“ Tina deutete auf das braune Tier. „Und das ist ihr Frosch.“
„Wer hat denn so was in dein Matheheft gemalt?“ Überflüssige Frage: Ich wusste es längst, konnte es nur nicht fassen.
„Pit“, antwortete Tina. Wahrscheinlich guckte ich sie ungläubig an, vielleicht auch nur fragend. „Na Pit, der Schokoladenengel!“ Ich war sprachlos: Tina redete von diesem Paketboten wie von einem guten Bekannten. „An wen erinnert dich die Frau, Mama?“ Wieder betrachtete ich die Zeichnung, diesmal genauer – und erkannte meine eigenen Gesichtszüge in der Frau auf dem Thron. „Lustig, was?“ Tina kicherte.
Nein, ich fand das gar nicht lustig, nicht ein bisschen. Und das sagte ich ihr auch, und zwar deutlich. „Und ich will nicht, dass du in der Praxis mit fremden Männern quasselst!“, beschloss ich meine Wutrede. „Wo kommen wir denn da hin! Vor allem verbiete ich dir, ständig mit diesem Paketmann herumzualbern!“
Ich wurde lauter, als ich eigentlich wollte, und es gab Streit und Tränen. Und eine späte Versöhnung. Nach zehn erst und nach vielen Küsschen schlief Tina ein.
Zärtlich und mit schlechtem Gewissen betrachtete ich mein kleines, schlafendes Mädchen. Sie mochte den unverschämten Paketboten, na und? Blödsinn, ihr das Kichern mit ihm zu verbieten. Ob ich mir womöglich selbst etwas verbieten wollte?
Später, in
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