Sturmjahre
nicht zu nahe zu kommen.
Er richtete sich auf, als er Samantha kommen hörte. Sein Gesicht war, wie Samantha mit Bestürzung sah, kalkweiß.
»Was ist es denn, Dr. Weston?«
Er wandte sich von der Patientin ab, faßte Samantha beim Ellbogen und führte sie ein Stück weg.
»Die Familie behauptet, es wäre der Blinddarm«, sagte er leise. »Aber das glaube ich nicht.«
Samantha sah das nervöse Zucken um seinen Mund. »Und warum nicht?«
»Sie hat Blutungen.«
Samantha drängte sich an ihm vorbei. Vor der Patientin blieb sie erschrocken stehen. Die junge Frau war Letitia MacPherson.
Ihre Augen waren geschlossen, ihre Wangen fieberheiß, der Kopf hing schlaff auf die Brust.
»Helfen Sie mir, sie auf den Untersuchungstisch legen, Dr. Weston. War sie bewußtlos, als die Familie sie brachte?«
»Ihre Schwester sagte, sie hätte den ganzen Tag über Übelkeit geklagt. Am Nachmittag schrie sie plötzlich, sie hätte schreckliche Schmerzen im Bauch und brach zusammen. Sie brachten sie zu Bett und holten den Hausarzt, der dann empfahl, sie zu uns zu bringen.«
»Wo ist der Arzt?«
»Im Foyer. Mit der Mutter und der Schwester.«
{265} Samantha warf nur einen kurzen Blick auf Dr. Weston und las in seinem aschfahlen Gesicht die ganze Geschichte. Letitia hatte sich also doch auf mehr eingelassen als ein paar harmlose Spielereien. Und du, dachte Samantha, hast jetzt Angst, daß du der Schuldige bist, wenn sie schwanger ist.
Vorsichtig untersuchte sie Letitia. Beim Tasten fand sie den kleinen harten Klumpen unter der Haut. Behutsam tastete sie das Umfeld ab und untersuchte den Uterus, während sie gleichzeitig die merkwürdigen kleinen roten Male auf Letitias weißer Haut studierte. Dr. Weston und Mrs. Knight standen die ganze Zeit stumm dabei, und als Samantha schließlich sprach, fuhren sie beide zusammen.
»Es ist eine Eileiterschwangerschaft«, sagte Samantha. »Der Eileiter ist eben gebrochen.«
Mrs. Knight schüttelte tief bekümmert den Kopf und bekreuzigte sich.
»Mrs. Knight«, sagte Samantha, während sie Letitias Röcke herunterzog, »machen Sie alles für eine Operation fertig. Ich brauche alles an Licht, was Sie kriegen können. Ja, und ist Eis in der Küche?«
Mrs. Knight riß ungläubig die Augen auf, nickte nur stumm und ging hinaus, um zu tun, was Samantha ihr aufgetragen hatte.
»Sie wollen operieren?« fragte Dr. Weston, der wie ein Häufchen Unglück auf einem Stuhl zusammengesunken war. »Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Ich brauche Sie für die Narkose, Doktor. Und bitte schicken Sie jemanden zu Dr. Fremont nach Hause. Ich brauche seine Hilfe.«
Samantha holte einmal tief Atem, straffte die Schultern und ging durch die Tür hinaus, die ins Foyer führte.
Janelle MacPherson sprang auf, als sie sie sah, die ältere Frau neben ihr jedoch blieb sitzen.
Samantha wappnete sich innerlich, ehe sie sagte: »Wollen wir uns nicht setzen, Miss MacPherson? Ich fürchte, ich habe schlechte Nachricht für Sie.«
»Ich möchte lieber stehen bleiben, Dr. Hargrave. Was fehlt meiner Schwester?«
»Letitia muß sofort operiert werden.«
Janelle wurde kreidebleich. »Sie wollen operieren? Seit wann operiert man einen Blinddarm?«
»Bitte, setzen wir uns doch.«
Nachdem sie sich auf der Bank niedergelassen hatten, sagte Samantha so behutsam wie möglich: »Letitia hat keine Blinddarmentzündung, Miss {266} MacPherson. Bei ihr liegt eine außeruterine Schwangerschaft vor. Sie muß augenblicklich abgebrochen werden.«
Janelles tiefblaue Augen blitzten wie Stahl. »Was haben Sie da gesagt?«
Samantha wollte ihr beschwichtigend die Hand auf den Arm legen, aber Janelle rückte von ihr ab.
»Letitia ist schwanger. Der Fötus wächst in einem der Eileiter. Dieser Eileiter ist geplatzt. Wenn nicht sofort etwas geschieht, ist Letitia nicht zu retten.«
»Wie können Sie es wagen, eine solche Anschuldigung gegen meine Schwester vorzubringen!«
»Das ist keine Anschuldigung, Miss MacPherson. Und wenn ich nicht sofort operiere –«
»Sie werden meine Schwester nicht operieren.«
»Einen Augenblick!« sagte ein Mann mit dröhnender Baßstimme. »Ich habe die Diagnose selbst gestellt. Die junge Dame hat eine akute Blinddarmentzündung.«
Samantha musterte den alten Herrn mit raschem Blick. Er war vermutlich schon seit Jahren der Hausarzt der Familie MacPherson und anderer wohlhabender Familien. Samantha hatte den Verdacht, daß seine medizinische Praxis vor allem darin bestand, Händchen zu halten,
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