Sturmjahre
MacPherson sehr wohl, daß sie mit dem Feuer spielte. Ihr erstes Abenteuer mit einem Mann hatte sie in sehr jungen Jahren im Gartenpavillon des Sommersitzes ihrer Eltern gehabt. Ihr Partner war einer ihrer Vettern gewesen. Danach war Letitia zu der Überzeugung gekommen, daß es auf der Welt keine Beschäftigung gab, die auch nur halb soviel Spaß machte. Sie spielte nicht schlecht Klavier, handarbeitete leidlich, malte mittelmäßige Aquarelle, aber im Zusammenspiel mit einem Männerkörper war sie Meisterin.
Einen besonderen Reiz gewannen diese Spiele für sie durch die Gefahr, ertappt zu werden. Die Vorstellung, zu heiraten und jede Nacht mit demselben Mann zu schlafen, erschien ihr bei weitem nicht so verlockend wie die Aussicht, sich jedesmal mit einem anderen Partner zu vergnügen. Das Pikante an der Liebe lag in der Abwechslung und in der Gefahr, entdeckt zu werden.
Um dem Risiko einer Schwangerschaft vorzubeugen, war Letitia auf Empfehlung einer Freundin zu einer Frau in Greenwich Village gegangen, die ihr eine Flasche mit einer Tinktur und dazu ein Schwämmchen verkauft hatte, das unmittelbar vor dem Geschlechtsverkehr eingeführt werden mußte.
Weder Samantha noch die Männer, die sich, von Letitias kindlich unschuldigem Charme hingerissen, alle für ihren ersten und einzigen Liebhaber hielten, ahnten etwas davon.
{263} »Wir gehen kommenden Samstag alle zu der großen Wildwestschau, Dr. Hargrave. Da sollen sogar
richtige
Indianer auftreten.«
Samantha lächelte und nahm der Patientin, der sie das Fieber gemessen hatte, das Thermometer aus der Achselhöhle. Während sie die Temperatur ablas, dachte sie: ich bin zu ängstlich. Letitia ist ein viel zu anständiges und gescheites Mädchen, um die Männer zu weit gehen zu lassen.
»Dr. Hargrave?«
Sie blickte auf. Dr. Weston stand an der offenen Tür zum Korridor und winkte. »Können Sie gleich mal kommen? Sie werden gebraucht.«
Sie eilte mit ihm auf die Unfallstation. Es ging chaotisch zu. Stöhnende Verletzte auf Tragen, hektisch herumlaufende Schwestern, Ärzte, die Befehle brüllten, während sie sich die Ärmel hochkrempelten. An einer Straßenkreuzung in der Nähe war ein Pferd durchgegangen und hatte eine Massenkarambolage verursacht, bei der Passanten getötet und zahlreiche Menschen verletzt worden waren.
»Hierher, Doc!« rief Jake, der einem Polizisten half, einen tobenden Mann zu bändigen, dessen Bein von einem Wagen überfahren worden war.
Samantha befahl, ihm den Rock auszuziehen, und gab ihm eine Morphiumspritze. Als er sich beruhigt hatte, sah sie sich die Verletzung an. Das Bein war oberhalb des Knies praktisch durchgetrennt. Der Polizist hatte geistesgegenwärtig irgendwo ein paar Tücher zusammengerafft und das Bündel fest an die Wunde gedrückt, um die Blutungen zu stoppen. Vorsichtig schälte Samantha das Tuchbündel ab und stellte erstaunt fest, daß es eiskalt war. In seiner Mitte spürte sie einen steinharten Klumpen.
Der Polizist, der ihre verwunderte Miene sah, sagte: »Das hab ich als Pfleger bei der Unionsarmee gelernt. Unter den Fuhrwerken an der Unfallstelle war ein Eiswagen. Da hab ich mich einfach bedient.«
Samantha blickte auf das schwer verletzte Bein und sah, daß die Blutung auffallend gering war. Doch in der Wärme des Raumes begannen sich die Gefäße zu erweitern, und das Fleisch fing an sich zu röten. Sie wußte schon jetzt, daß die Wunde gut verheilen und allenfalls eine schwache Entzündung auftreten würde. Und der Mann hatte so wenig Blut verloren!
Eis, dachte sie erregt. Eis …
{264} 9
Es war ein klarer, kalter Oktobertag. Der Wind trieb rotgoldene Blätter über die Bürgersteige, und in der Luft lag schon ein Hauch des nahenden Winters.
Samantha stand am Waschbecken im Krankensaal und wusch sich die Hände. Es war ein langer Tag gewesen, und sie war müde. Sie freute sich auf ihren Feierabend, auf die Ruhe ihres kleinen Zimmers, vor allem aber freute sie sich auf den Brief von Mark, der, wie man ihr mitgeteilt hatte, oben auf sie wartete.
Sie lächelte glücklich vor sich hin. Gestern war die
Excalibur
aus Bristol ausgelaufen. In einer Woche würde Mark wieder zu Haus sein.
Mildred erschien an der Tür. »Dr. Hargrave? Es tut mir leid, aber Dr. Weston meint, er hätte einen gynäkologischen Fall für Sie.«
Samantha nickte nur. »Ich komme sofort, Mildred.«
Dr. Weston stand über eine junge Frau geneigt, die vor ihm auf einem Stuhl saß, und bemühte sich, ihr mit seinem Stethoskop ja
Weitere Kostenlose Bücher