Sturmjahre
sie hatten mit Marks Tod geendet. Außerdem fehlte es ihr nicht an männlicher Aufmerksamkeit und Bewunderung. Obwohl sie sechsundzwanzig war, also nicht mehr in der Blüte der Jugend, hatte Samantha in den letzten Jahren mehrere Heiratsanträge bekommen – von Patienten, die Dankbarkeit mit Liebe verwechselten, von Mr. Finch, dem Apotheker, der jedesmal zu stottern anfing, wenn sie in seinen Laden kam, von dem netten Polizisten, der in ihrem Viertel Streife ging und energisch für sie eingetreten war, als man sie bezichtigt hatte, eine Engelmacherin zu sein. Alle hatten sie behauptet, Samantha könne allein unmöglich mit dem Leben fertigwerden; sie brauche dringend einen Mann.
Nein, die Tatsache, daß es in ihrem Leben keinen Mann gab, war nicht schuld an dieser inneren Unruhe. Es mußte etwas anderes sein, etwas, das mit den äußeren Dingen des Lebens – Arbeit, Freundschaft, Geselligkeit – nichts zu tun hatte. Denn daran mangelte es ihr ja nicht. Was aber konnte es dann sein?
In den ersten Wochen hatte San Francisco verwirrend und überwältigend auf sie gewirkt. Die Stadt war ein Durcheinander bunt zusammengewürfelter Gemeinden von Chinatown mit seiner ungewöhnlichen Einwohnerschaft gelbhäutiger Menschen mit flachen Hüten und weit schlotternden Gewändern bis zur Babary Coast mit seinen rumseligen Seeleuten, vom eleganten Nob Hill mit seinen verschnörkelten Prachtvillen bis zum Portsmouth Square mit seinen Bordellen, in denen bis zu vierhundert Mädchen wie Tiere in Käfigen zusammengepfercht waren. Samantha war sich vorgekommen, als sei sie in ein wildfremdes Land geraten, und ihr neues Leben war im Grunde ein ständiger Kampf gewesen. Zuerst hatte sie um Anerkennung und Ansehen kämpfen müssen; dann hatte sie um das Leben ihres Kindes gekämpft; danach hatte sie sich der Herausforderung gestellt, Zugang zu Jennifer zu finden. Vier Jahre des Bemühens und des Kämpfens. Aber das war jetzt vorbei. Man hatte sie akzeptiert, sie genoß allgemeines Ansehen, ihr Leben war frei von finanziellen Sorgen.
Vielleicht, dachte Samantha, bin ich zu bequem geworden.
Sie drängten sich durch das Menschengewühl in der Kearny Street, Sa {283} mantha in der Hoffnung, daß Mrs. Keller nüchtern genug sein würde, um das Abendessen zu kochen, als sie vor ihrem Haus eine Menschenansammlung bemerkte. Am Bürgersteig stand eine elegante Equipage, um die sich eine Schar gaffender Kinder versammelt hatte.
Miss Seagram scheint hohen Besuch zu haben, dachte Samantha.
Als sie vier Jahre zuvor die Wohnung gemietet hatte, hatte sie erfreut festgestellt, daß ihre nächste Nachbarin eine Fotografin war, deren Geschäft nach ihrer Garderobe zu urteilen ausgezeichnet ging. Im Lauf der Zeit jedoch hatte Samantha bemerkt, daß Miss Seagrams Kunden ausschließlich Männer waren, daß sie lange zu bleiben pflegten – manchmal über Nacht – und daß nie einer von ihnen mit einem Bild unter dem Arm aus dem Atelier kam.
Als Samantha die Treppe zu ihrer Wohnung erreichte, sah sie erstaunt, daß oben eine adrett gekleidete Zofe sie erwartete. Dann erfuhr sie, daß der Besuch nicht zu Miss Seagram gekommen war, sondern daß die Equipage eine Dame gebracht hatte, die ärztliche Hilfe suchte.
2
Trotz der warmen Witterung war die Frau von Kopf bis Fuß in ein Cape aus teurem Wollstoff gehüllt. Die Kapuze fiel ihr so tief in die Stirn, daß ihre Gesichtszüge nicht zu erkennen waren. Der Kutscher half ihr aus dem eleganten Wagen, und sie stieg langsam und schwerfällig, als litte sie Schmerzen, die Treppe hinauf. Ihr Alter war nicht zu schätzen; aber eines war deutlich zu sehen, die mysteriöse Dame war sehr wohlhabend.
Samantha führte sie in den kleinen Salon neben dem Sprechzimmer, wo sie ihre Patienten häufig empfing. Die gemütliche Atmosphäre, die frischen Blumen, die immer auf dem Tisch standen, nahmen auch den ängstlichsten Frauen im allgemeinen die Befangenheit. Die geheimnisvolle Dame setzte sich auf einen zierlichen brokatbezogenen Sessel, und Samantha wußte sofort, warum sie gekommen war.
Sie schloß die Tür und setzte sich der Frau gegenüber, deren Zofe hinter ihr stehen geblieben war. Die Stimme, die unter der Kapuze hervorkam, war kultiviert und klang zu Samanthas Überraschung sehr jung.
»Sind Sie Dr. Hargrave?«
»Ja.«
Die Fremde hob die behandschuhten Hände und öffnete die Spange, die das Cape zusammenhielt, und streifte es ab. Darunter trug sie ein veil {284} chenblaues Satinkleid mit
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