Sturmjahre
den Tag vor einem Jahr, als Jenny zu ihr gekommen war, ein magerer kleiner Dreckspatz, der sich nach einer gründlichen Wäsche als zierliches kleines Mädchen von eigenartigem Reiz entpuppt hatte, feingliedrig, mit leicht getönter Haut und exotisch geschnittenen Gesichtszügen. Ihre stille Fügsamkeit erstaunte und verwunderte Samantha, die aus eigener Erfahrung wußte, wie wild und ungebärdig die Kinder in den Slums aufwuchsen. Jenny war immer brav und gehorsam und lächelte nie.
Mit der Puppe, die Samantha ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, hatte sie nichts anzufangen gewußt; das große Schokoladenei zu Ostern hatte sie sehr gelassen entgegengenommen. Einmal war Samantha mit ihr ans Meer gefahren. Sie hatten den Pferdebus bis nach Seal Point genommen und den Wellen zugesehen, die sich schäumend an den Felsen unterhalb des Cliff House brachen. Jenny war völlig ungerührt geblieben. Aber sie hatte mit ihren scharfen, klugen Augen alles genau beobachtet – die Seehunde, die Möwen, den Gischt, der vom Meer aufstieg –, und als Saman {290} tha sie bei der Hand nahm, weil es Zeit war, nach Hause zurückzukehren, war sie ihr zur Bushaltestelle gefolgt, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Sie war ein seltsames, verschlossenes Kind, vertrauensvoll und lammfromm auf der einen Seite, doch immer auch von scharfer Aufmerksamkeit. Samantha, die sie für intelligent hielt, hatte versucht, Jenny das Alphabet und die Zahlen beizubringen, aber es war ihr nicht gelungen. Und es war ihr auch nicht gelungen, Zugang zu ihren Gefühlen zu finden.
Die kleine Merry begann zu weinen, und das Kindermädchen nahm sie Hilary ab. Die küßte das Kind noch einmal herzhaft, dann zogen die beiden wieder ab, und Hilary ließ sich lachend in ihren Sessel fallen.
Samantha betrachtete schweigend das feine Gesicht Hilary Gants, einer Frau, die der Reichtum nicht verdorben zu haben schien. Sie war frei von Geziertheit, warm und natürlich. Samantha verspürte plötzlich Neugier, hätte gern viel mehr über sie gewußt, überlegte sogar, wie es sein würde, mit Hilary Gant befreundet zu sein.
Nach Marks Tod war Samantha anderen Menschen gegenüber auf Distanz gegangen. Zum erstenmal jetzt seit vier Jahren hatte sie Sehnsucht nach Freundschaft und vertrauensvollem Austausch mit einem anderen Menschen.
Hilary fühlte sich ähnlich zu Samantha hingezogen, aber da man nicht einfach wie in Kinderzeiten sagen konnte, willst du meine Freundin sein?, versuchte sie, sich ihr mit kleinen Schritten zu nähern. »Wissen Sie, Dr. Hargrave«, sagte sie, »mit das Schlimmste in diesem schrecklichen letzten Jahr war die Geringschätzung der Ärzte, bei denen ich war. Sie waren so kalt und verständnislos, daß ich vor Scham jedesmal am liebsten in den Erdboden versunken wäre. Erst machten sie mich krank und dann ließen sie mich einfach im Stich.«
Sie sagte es ohne Bitterkeit. Es war nichts weiter als eine sachliche Feststellung, und es erstaunte Samantha, daß diese junge Frau, die an Leib und Seele so schwer gelitten hatte, so wenig nachtragend war.
»Elsie erzählte mir schon vor Monaten von Ihnen, Dr. Hargrave, und ich brauchte so lange, um mich zu dem Besuch bei Ihnen zu entschließen. Ich hatte keinerlei Erfahrung mit Ärztinnen, und die einzige, von der ich hier am Ort gehört hatte, genießt einen sehr – hm, zweifelhaften Ruf. Um ehrlich zu sein, ich hatte Angst vor Ihnen. Ich zögerte und zögerte, bis ich schließlich den absoluten Tiefpunkt erreichte. Ich konnte Dr. Roberts Behandlungen einfach nicht mehr ertragen. Er legte mir Blutegel an die Scheide und ließ sie solange da hängen, bis ich nur noch um Erbarmen {291} winseln konnte. Es war grauenhaft. Ich war so weit, daß ich lieber gestorben wäre, als mich noch ein einziges Mal von ihm anrühren zu lassen. Elsie überredete mich schließlich, zu Ihnen zu gehen. Und Sie haben ein Wunder vollbracht.«
»Das Wunder liegt einzig darin, daß ich eine Frau bin, Mrs. Gant.«
»Sagen Sie das nicht. Ich bewundere Sie, Dr. Hargrave. Und ich beneide Sie auch. Als ich jünger war, vor meiner Ehe, hatte ich große Ambitionen. Ich wollte etwas Großes leisten, so wie Sie. Aber das waren nur Träume. In der Welt, in der ich zu Hause bin, haben Frauen keine Wahl.« Die Trauer in Hilarys Stimme war nicht zu überhören. Samantha spürte, daß sie ihr etwas anvertraute, worüber sie bisher mit niemandem gesprochen hatte. »Bitte, mißverstehen Sie mich nicht, Dr. Hargrave. Ich liebe meinen Mann
Weitere Kostenlose Bücher