Sturmjahre
mitzunehmen. Während der Wagen langsam durch den dichten Nebel kroch, überließ sich Samantha ihren Gedanken, und Stanton, der schweigend ihr beschattetes Gesicht musterte, gestand sich ein, daß er sie, jedesmal, wenn er sie sah, ein wenig mehr bewunderte, sich jedesmal ein wenig mehr von ihr gefangen fühlte.
»Es gibt einen alten Spruch, Dr. Hargrave«, sagte er nach einer Weile, »der besagt, daß ein Ausschuß eine Gruppe von Männern ist, die einzeln nichts tun können und in der Gemeinschaft beschließen, daß nichts getan werden kann.«
»Bitte?« Sie sah ihn fragend an. »Oh, verzeihen Sie, Mr. Weatherby. Ich hatte so sehr gehofft, daß dieser Abend erfreulicher verlaufen würde. Ich kann gar nicht nachdrücklich genug darauf hinweisen, wie geeignet das
Gilded Cage
für unsere Zwecke wäre.«
In seinen Augen blitzte es amüsiert. Er fand ihre Entschlossenheit und ihre Zielstrebigkeit durchaus attraktiv. »Machen Sie sich keine Sorgen, Dr. Hargrave. Ich werde noch einmal mit Darius sprechen. In der Zwi {301} schenzeit, würde ich vorschlagen, versuchen Sie, die Mittel lockerzumachen.«
»Danke. Genau das habe ich vor. Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Unterstützung«, fügte sie lächelnd hinzu.
Wieso ist diese Frau nicht verheiratet? dachte er, während er zurücklächelte. Dann räusperte er sich und sagte in beiläufigem Ton: »Haben Sie eigentlich schon die Victoria Regina im Golden Gate Park gesehen? Es heißt, das wäre die größte Blume der Welt. Die Blüte mißt fünf Fuß im Durchmesser.«
»Oh, wie interessant. Nein, ich hatte noch keine Gelegenheit, sie mir anzusehen, Mr. Weatherby.«
»Dann würden Sie mir vielleicht das große Vergnügen machen, nachmittags einmal mit mir hinauszufahren? Am Sonntag vielleicht?«
»Leider ist ausgerechnet der Sonntag der Tag, an dem ich am meisten zu tun habe, Mr. Weatherby. Viele meiner Patientinnen sind Arbeiterinnen und können nur sonntags in die Praxis kommen.«
»Ach so, ich verstehe. Nun ja …« Er zog an seinen Handschuhen. »Machen Sie sich wegen des
Gilded Cage
auf jedenfall keine Sorgen, Dr. Hargrave. Ich kann Ihnen praktisch garantieren, daß Darius zur Einsicht kommen wird.«
Aber Darius war nicht umzustimmen. Er hielt Hilary einen strengen Vortrag und befahl ihr ein für allemal, die Finger von dem Plan zu lassen, das
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zu kaufen. Hilary jedoch ließ sich nicht beeindrucken. Es war das zweitemal in ihrer Ehe, daß sie seinem Befehl zuwiderhandelte; und sie hatte das Gefühl, daß es nicht das letztemal war.
»Tja«, sagte Samantha, als die beiden Frauen aus der imposanten Villa traten, und sie den Namen Flood von ihrer Liste strich, »es reicht immer noch bei weitem nicht.«
In den letzten drei Tagen hatten sie die meisten der Reichen auf Nob Hill aufgesucht, um Spenden für ihr Krankenhaus zu sammeln, aber kaum jemand wollte für den Ankauf eines der berüchtigtsten Häuser San Franciscos Geld geben. Zwar waren viele dieser Leute mit Hilary befreundet, doch ihren Plan konnten sie nicht gutheißen. Der üble Leumund des Freudenhauses würde sich auf das Krankenhaus übertragen, meinten sie. Hinzu käme, daß es sich in einem verrufenen Viertel befände, und das Krankenhaus somit vor allem Frauen von zweifelhafter Moral als Patientinnen anziehen würde. Keine Frau, die auch nur über einen Funken Selbstachtung verfüge, ganz gleich, wie arm oder wie krank, würde danach noch das Krankenhaus aufsuchen.
{302} Hilary war erbost. »In drei Tagen verkauft Mr. Johnson an jemand anderen. Ich wollte, ich hätte die Verfügungsgewalt über mein Geld, Samantha. Mein Vater hat mir eine große Erbschaft hinterlassen, aber alles läuft auf Darius’ Namen.«
»Wir dürfen noch nicht aufgeben, Hilary. Also, wollen wir es bei Mrs. Elliott versuchen?«
Hilary blickte über die Straße auf den vieltürmigen Palast, der hinter einer mehr als mannshohen Mauer aufragte. Wie eine mittelalterliche Festung thronte die Elliott Villa, das älteste Gebäude auf Nob Hill auf der Höhe der California Street. In Schweigen eingehüllt und von Geheimnis umwoben. Es war das einzige Haus auf Nob Hill, das Hilary noch nie betreten hatte. Seine einsame Bewohnerin, die alte Mrs. Lydia Elliott, empfing keinen Besuch. Sie war Jahrzehnte zuvor als Frau eines des Schreibens und Lesens unkundigen Goldsuchers aus Boston nach San Francisco gekommen. Ihr Mann, James Elliott, in San Francisco inzwischen zur Legende geworden, war vor fünfundzwanzig Jahren
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