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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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Brot, damit es schwerer wiegt, Sand im Zucker, Staub im Kaffee, Kreide in der Milch – die Liste ist endlos. Lebensmittelhändler und -lieferanten können genau wie die Arzneimittelhersteller mit ihren Produkten machen, was sie wollen und sind nicht verpflichtet, dem Kunden Aufklärung darüber zu geben. Sämtliche Anträge, die Wiley im Kongreß eingebracht hat, um da eine Änderung zu erreichen, sind abgeschmettert worden. Und Wiley ist ein einflußreicher Mann.«
    »Aber wir müssen etwas tun, Stanton.«
    Stanton überlegte einen Augenblick. »Wir leben in einem freien Land, Samantha. Ein Hersteller von Arzneimitteln hat das Recht, seine Mittel so zusammenzustellen, wie er es für richtig hält. Der Staat kann ihm da keine Vorschriften machen.«
    »Ich sage ja gar nicht, daß der Staat Vorschriften machen soll. Ich sage nur, daß der Hersteller zum Schutz des Kunden verpflichtet sein müßte, die Zusammensetzung des Mittels genau anzugeben. Die Leute haben doch ein Recht darauf zu wissen, was die Arznei enthält, die sie kaufen. Wofür sie bezahlen.«
    »Du sprichst von staatlicher Intervention, Samantha.«
    »Im Gegenteil, ich spreche von mehr Freiheit für die Leute. Sie müssen die Freiheit der aufgeklärten Wahl haben, wenn sie ein Arzneimittel kaufen, damit sie sich vor Betrug schützen können.« Sie trat zu ihm und sah ihn eindringlich an. »Stanton, ich trage diesen Zorn schon seit Jahren mit {362} mir herum. Wenn ich sehe, wie sich die Frauen mit diesen Mitteln kaputtmachen, könnte ich schreien vor Wut. Entweder sie werden süchtig, oder sie kommen dank dieser Mittel, die ihnen prompte Heilung versprechen, erst zum Arzt, wenn es zu spät ist. Und darum muß ich jetzt endlich etwas unternehmen.«
    Er sah ihrer entschlossenen Miene an, daß es keinen Sinn hatte, mit ihr zu argumentieren. »Und was hast du vor?«
    »Zunächst einmal werde ich die Frauen aufklären, die zu uns ins Krankenhaus kommen. Dann werde ich versuchen, die Öffentlichkeit wachzurütteln. Es muß doch jemanden geben, der mir zuhört …«

4
    Andere mochten sich an seine Häßlichkeit gewöhnen, Adam selbst würde sich nie mit ihr abfinden. Jedesmal, wenn er sich im Spiegel sah, war er entsetzt und abgestoßen. Darum hatte er keinen Spiegel in seinem Zimmer; darum war er nie sorgfältig gekämmt. Aber er entkam der Begegnung mit seinem Spiegelbild nicht: überall im Haus gab es Spiegel; es gab Fensterscheiben und im Garten einen Weiher. Sie warfen ihm sein Bild zurück, als wollten sie ihn verhöhnen. Aber
sie
, dachte Adam dann schmerzlich, aber
sie
sieht es nicht.
    Nein, Jenny sah nichts Häßliches an Adam. Geradeso, wie sie einst die elegante Fassade Warren Dunwichs durchschaut und dahinter die Herzlosigkeit gesehen hatte, sah sie, ohne sich von den äußeren Entstellungen ablenken zu lassen, die Schönheit und Klarheit von Adams Wesen.
    Adam hatte lange geglaubt, die Explosion auf Telegraph Hill hätte ihn nicht nur taub gemacht und entstellt, sondern auch sein Herz versteinert. Ein Tuch auf sein blutendes Gesicht gedrückt, hatte er dagestanden und zugesehen, wie man seinen Vater tot unter den Trümmern hervorzog, und hatte gespürt, wie er innerlich erstarrte. In den folgenden Monaten, als er sich verzweifelt und mutterseelenallein auf den Straßen herumgetrieben hatte, schutzlos ausgeliefert jedem, der ihn mißbrauchen wollte, hatte er sich gefühlt, als wäre er mit seinem Vater gestorben.
    Als die Franziskaner von der Mission ihn aufgelesen hatten, hatten sie ihn zuerst in ein Waisenhaus gebracht und dann veranlaßt, daß er an die Taubstummenschule kam. Später hatte er vom Leiter der Schule erfahren, daß sein Gesicht weit weniger gelitten hätte, wenn er sofort nach dem Unfall in ärztliche Behandlung gekommen wäre; aber nun war es zu spät, noch etwas zu tun. Adam war dazu verurteilt, in einer Welt des {363} Schweigens zu leben, erschreckend für jedermann, der ihn das erstemal sah.
    Nach Beendigung seiner Schulzeit hatte Adam sich entschlossen, als Lehrer an der Schule zu bleiben. Hinter ihren Mauern fühlte er sich vor den grausamen Blicken gesunder Menschen geschützt. Seine Schüler brauchten nicht lange, um sich an ihn zu gewöhnen und akzeptierten ihn dann so, wie er war.
    Adam hätte nicht mehr sagen können, wann genau das Gefühl völliger Isolation ihn das erstemal übermannt hatte; die Erkenntnis, daß er anders war, abgeschnitten, getrennt selbst von denen, die taub waren wie er. Aber er erinnerte sich,

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