Sturmjahre
nichts wies darauf hin, daß Mrs. Fenwick sich über ihre besondere Beschwerde Gedanken gemacht hatte. Mit der Zeit wurde die Stelle größer und begann zu nässen. Wieder wandte sich die Frau an Mrs. Fenwick; wieder bekam sie zur Antwort, daß die Mixtur Heilung bringen würde. Die Patientin vertraute dieser mächtigen Firma, sie wußte ja nicht, daß die Behauptungen in den Anzeigen Lügen waren, und sie vertraute dem gütigen Gesicht der alten Dame, deren Porträt die Anzeigen ziert, da sie nicht wußte, daß diese Dame längst tot war. In diesem Vertrauen erhöhte die Patientin die tägliche Dosis.
Die Wunde begann zu eitern. Ein drittesmal wandte sich die Patientin an die Firma Fenwick. Man schickte ihr eine Salbe mit der Anweisung, sie täglich auf die wunde Stelle aufzutragen, und riet ihr, die tägliche Einnahmedosis der Wundermixtur nochmals zu erhöhen. Die Patientin nahm mittlerweile so viel von der Mixtur, die zu fünfundzwanzig Prozent aus Alkohol besteht, daß sie keinen Appetit mehr hatte. Sie verlor stark an Gewicht, und die wunde Stelle breitete sich weiter aus.
Erst auf Insistieren ihrer Schwester wurde ich schließlich hinzugezogen. Die Frau war schwer anämisch, unterernährt und depressiv. Ich hatte wenig Hoffnung, etwas für sie tun zu können. Nachdem ich sie untersucht hatte, mußte ich ihr sagen, daß sie Krebs hatte.«
Samantha machte eine Pause, sowohl um ihre Worte wirken zu lassen {420} als auch um Atem zu schöpfen. Mit Erschrecken spürte sie, daß ihr schwindelte.
»Wäre diese Frau, die dreiundvierzig Jahre alt war, gleich zu mir gekommen, so hätte ich das kleine Geschwür entfernt, und sie hätte weiterleben können wie bisher. So hat sie höchstens noch ein Jahr zu leben, und die letzten Monate werden eine einzige Qual sein. Dank Sara Fenwicks Wundermixtur.«
Samantha musterte die Gesichter im Gerichtssaal, ernst und aufmerksam fast alle. Selbst die Männer am Pressetisch vergaßen mitzuschreiben.
»Ein weiteres Opfer der Firma Fenwick ist eine junge Frau, die im Haus ihrer Mutter von einem betrunkenen Mieter mißbraucht wurde. Naiv und unwissend, hatte sie keine Ahnung, was ihr geschehen war, und aus Scham behielt sie den schrecklichen Zwischenfall für sich. Als ihre Menses ausblieb, kam sie in ihrer Unwissenheit nicht auf den Gedanken, das mit dem Zwischenfall zu verbinden; sie glaubte, sie wäre krank und schrieb voller Angst an Mrs. Fenwick. Fast ein Kind noch, tat sie getreulich, was Mrs. Fenwick ihr riet und trank eine ganze Flasche der Wundermixtur. Wie in dem Schreiben versprochen, löste sich ›ein Tumor im Uterus‹ ab und wurde unter großen Schmerzen und starken Blutungen ausgestoßen. Als das Mädchen sah, wie dieser ›Tumor‹ aussah, geriet sie völlig außer sich. Sie ist heute eine seelisch kranke Frau, die niemals auf ein normales, halbwegs glückliches Leben hoffen kann.«
Samantha holte mehrmals tief Atem; das Schwindelgefühl verstärkte sich. Sie drehte sich ein wenig in ihrem Sessel und richtete den Blick auf die Geschworenen.
»Meine Herren, ich habe die Arzneimittelhersteller Mörder genannt. Daran halte ich fest. In diesem Gerichtssaal sitzt ein Mann, der mit acht Kindern zurückgeblieben ist, weil seine Frau sich mit Rupert Wells’ Krebskur zu heilen versuchte, anstatt zu einem Chirurgen zu gehen. Wie viele unter Ihnen haben eine Frau, eine Tochter, eine Mutter oder eine Schwester, die ihr Leiden mit einem Elixier trügerischer Hoffnung und schamlosen Betrugs zu heilen versucht? In seiner Eröffnungsrede sprach Mr. Cromwell von Rechten und Freiheiten. Er wollte Sie glauben machen, daß staatliche Vorschriften Sie alle zu rechtlosen Sklaven machen. Aber ich will Ihnen sagen, wessen Sklaven Sie sind! Diese Arzneimittelhersteller sind es, denen Sie preisgegeben sind. Sie täuschen Sie mit ihren Lügen. Sie machen Versprechungen, die sie nicht erfüllen können; sie behandeln Sie wie Kinder und Schwachsinnige, indem sie die Rezepturen ihrer Mittel für sich behalten, als besäßen Sie nicht die Intelligenz, sie zu begreifen. Und weil niemand da ist, der Sie vor diesen Leu {421} ten schützt, vertrauen Sie ihnen, geben ihnen Ihr sauer verdientes Geld und bekommen dafür Gift, Sucht und Tod.
Warum wollen Sie sich belügen lassen? Warum sollten Sie das dulden? Wenn Sie eine Flasche kaufen, auf deren Etikett ›Rum‹ steht, erwarten Sie dann nicht, daß die Flasche auch Rum enthält? Und doch haben Sie gewiß schon unzählige Male Arzneien gekauft,
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