Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
Vom Netzwerk:
Seite, hörte seinen Belehrungen zu, stellte Fragen, prägte sich alles ein, was er ihr erzählte. Als er ihr über die Heilkraft des Ginseng-Tees berichtete und entdeckte, daß sie noch nie von China gehört hatte, kramte er ein verstaubtes Geographiebuch heraus und zeigte ihr Kontinente und Ozeane der Erde. Als er merkte, daß ihr Vater ihr nicht einmal die Grundbegriffe der Mathematik beigebracht hatte, begann er, mit ihr das Rechnen zu üben. Ihr Lerneifer und ihre rasche Auffassungsgabe freuten und beflügelten ihn.
    Den ganzen kalten Winter hindurch saß Isaiah Hawksbill Tag für Tag mit Samantha am lodernden Feuer und lehrte sie alles, was er wußte. Sein großes Werk über die Heilkraft der Kräuter und Pflanzen, an dem er viele Jahre lang mit solcher Besessenheit gearbeitet hatte, verlor an Bedeutung für ihn; jetzt fand er seine größte Befriedigung darin, diesem aufgeschlossenen und wißbegierigen kleinen Mädchen ein guter Lehrer zu sein. Als der Frühling kam, und Samanthas elfter Geburtstag sich näherte, erweiterte er den Unterricht auf Astronomie, Zoologie und antike {55} Geschichte. Jeder Tag wurde Samantha zu einem neuen Abenteuer an der führenden Hand des alten Hawksbill.
    Ihrem Vater sagte Samantha kein Wort von diesen Lehrstunden.

8
    Der alte Hawksbill hob eine Majolikadose hoch und drehte sie langsam im Licht.
    »Das ist
smilax officinalis,
Samantha, etwas ganz besonders Wertvolles.«
    Sie musterte die kleinen dornigen Ranken mit den langen dünnen Wurzeln. »Woher kommt es?«
    »Oh, das findet sich an vielen Orten der Erde. Das graue wächst in Mexiko, das braune in Honduras, und das hier –« Er klopfte leicht an die Dose – »stammt von den westlichen Hängen der Anden. Es ist sehr schwer zu bekommen.«
    »Und wozu braucht man es?«
    »Wozu man es braucht, Kind? Es ist ein uraltes Mittel zur Linderung der Geburtsschmerzen. Und es hilft bei einem Brustleiden, das man
Angina pectoris
nennt. Die Wilden Nordamerikas glauben außerdem, daß es gegen Impotenz hilft.«
    Samantha versuchte, den schwierigen lateinischen Namen auszusprechen.
    »Du kannst es auch Stechwinde nennen, Kind. Das ist –«
    Lautes Getöse auf der Straße störte unversehens die beschauliche Ruhe des Junimorgens. Isaiah Hawksbill rutschte von seinem hohen Hocker und trat ans Fenster. Der Anblick, der sich ihm bot, war chaotisch: Ein Fuhrwerk, dessen Kutscher die Gewalt über das Pferd verloren hatte, war die schmale Straße hinuntergedonnert, hatte Gemüsekarren umgerissen und Passanten in die Flucht geschlagen. Zwei unerschrockene Bauarbeiter sprangen auf das Fuhrwerk zu, dem eine schreiende Menge hinterherrannte, bekamen die Zügel des Pferdes zu fassen und kämpften mit dem verschreckt wiehernden Tier, bis sie es schließlich direkt vor Hawksbills Haus zum Stillstand brachten.
    Samantha lief neugierig ebenfalls zum Fenster und spähte hinaus. Am Rand der laut diskutierenden Menge sammelte sich jetzt eine kleine Menschengruppe.
    »Was ist denn passiert, Mr. Hawksbill?«
    »Sieht aus, als sei jemand verletzt worden.«
    {56} Sie sah ihn an. »Wollen wir da nicht helfen?«
    Er schüttelte den Kopf. »Das ist nicht unsere Sache.«
    »Aber Sie haben doch die vielen guten Arzneien.«
    »Nichts da. Ich will damit nichts zu tun haben.«
    Samantha schaute wieder hinaus. Zwei Männer, die zwischen sich wie eine Bahre eine Tür trugen, kamen die Straße heruntergelaufen. Samantha wirbelte herum und rannte zur Hintertür, da die Haupttür des Hauses stets verschlossen war. Sie flitzte die Hintergasse entlang, bog um die Ecke und blieb am Rand der Menge atemlos stehen. Der Fuhrmann stand händeringend da und sagte immer wieder: »Der Junge wollte den Gaul ganz allein aufhalten. Ich konnte nicht mehr ausweichen.«
    Die Menge teilte sich, um die Männer mit der Tür durchzulassen, und da sah Samantha, daß es Freddy war, der da stöhnend auf der Straße lag. Mit einem Aufschrei lief sie zu ihm und fiel neben ihm auf die Knie. Er drehte den Kopf stöhnend und wimmernd von einer Seite auf die andere, doch die Augen öffnete er nicht.
    »Aus dem Weg, Fräuleinchen. Wir müssen ihn auf die Trage laden.«
    Die beiden Männer packten den verletzten Jungen grob an den Füßen und unter den Armen und warfen ihn wie einen Sack auf die Tür. Samantha starrte entsetzt auf Freddys rechtes Bein: Die beiden gesplitterten Enden eines gebrochenen Knochens stießen durch das Fleisch, das von Blut und Straßenschmutz verschmiert war.
    Ein Schatten

Weitere Kostenlose Bücher