Sturmjahre
Nadel durch das gespannte Leinen führte, sagte lächelnd: »Das Problem ist ganz einfach zu lösen, Herzchen.«
»Wie denn?«
Hannahs Augen blitzten verschmitzt, als sie aufsah. »Es wundert mich, daß Sie nicht schon selber draufgekommen sind.« Sie ließ die Stickerei auf den Schoß sinken. »Sie können sich und Dr. Jones und die anderen Studenten zufriedenstellen.«
»Wie denn?« fragte Samantha wieder.
Vor der ersten Vorlesung ging sie zu ihm ins Büro.
»Sie können Dr. Monks sagen, daß ich nicht mehr versuchen werde, das Labor zu betreten.«
Jones musterte sie skeptisch.
»Ich gebe Ihnen mein Wort, Sir. Ich möchte nicht daran schuld sein, daß die anderen nicht zu ihrem Anatomieunterricht kommen. Dr. Monks braucht die Tür nicht mehr abzuschließen. Ich gehe nicht hinein.«
Und das tat sie auch nicht. Statt dessen holte sie sich aus einem der anschließenden Räume einen Stuhl und stellte ihn, nachdem der Unterricht begonnen hatte, vor die Labortür. Obwohl die Tür geschlossen war, {150} konnte sie, wenn sie sich nahe ans Schlüsselloch neigte, gut hören, was gesprochen wurde. Das alles schrieb sie sich auf.
Einer der Studenten kam verspätet durch den Korridor gelaufen und blieb perplex stehen, als er sie sah. »Was tun Sie denn hier, Miss Hargrave?«
Sie erklärte es ihm. Er schüttelte den Kopf, dann lief er ins nächste Unterrichtszimmer, holte sich ebenfalls einen Stuhl und setzte sich Samantha gegenüber.
Jones, dem viel daran lag, daß die erste Sitzung im Sektionslabor gut verlief, stieß wenige Minuten später bei einem Inspektionsgang auf Samantha und den jungen Mann. Als er ihre Erklärung für dieses seltsame Verhalten hörte, explodierte er und befahl beiden, auf der Stelle zu verschwinden.
Am Abend sagte Samantha zu Hannah, der Einfall wäre vielleicht doch nicht so gut gewesen. »Ich hätte rausfliegen können. Und ich hatte kein Recht, den jungen Mann in so eine brenzlige Lage zu bringen.«
Hannah lächelte nur. »Nicht lockerlassen, Herzchen. Sie unterschätzen Ihre Mitstudenten, lassen Sie sich das von einer Frau gesagt sein, die sich auf Männer versteht. Tun Sie morgen nochmal das gleiche. Ich freß’ einen Besen, wenn das keinen Erfolg hat.«
Als Samantha am folgenden Morgen in den zweiten Stock hinaufkam, sah sie verblüfft, daß der ganze Korridor von den Studenten besetzt war. Einer von ihnen stand von seinem Stuhl auf und erklärte etwas verlegen, sie hätten von dem Kommilitonen, der sie am vergangenen Tag im Gang angetroffen hatte, gehört, was vorging und seien der Meinung, wenn der Korridor für Miss Hargrave gut genug sei, dann sei er auch für sie gut genug.
Samantha hatte Mühe die Tränen zu unterdrücken, doch ehe sie etwas sagen konnte, erschienen Dr. Jones und Dr. Monks und verlangten empört eine Erklärung für dieses unerhörte Verhalten. Es folgte ein unerfreulicher Auftritt, in dessen Verlauf allen die Entlassung angedroht wurde, aber am Ende ließ sich Dr. Monks, der Samantha an diesem Tag das erstemal sah und durchaus angetan war, erweichen. Dr. Jones stimmte ihrer Aufnahme in das Sektionsseminar grollend zu und marschierte davon.
15
»Kannst du wirklich nicht bleiben, Samantha? Sean kommt erst im Frühjahr wieder heim. Ohne dich werd’ ich mich furchtbar einsam fühlen.«
{151} Samantha, die beim Packen war, richtete sich auf. »Sei mir nicht böse, Hannah. Ich würde ja gern bleiben, aber meine Freunde in New York möchten mich gern wiedersehen.«
Das stimmte zumindest teilweise. Louisa hatte Samantha in ihrem letzten Brief geschrieben, sie stürbe fast vor Sehnsucht nach ihr; sie müsse über Weihnachten unbedingt nach New York kommen. Doch von den Masefields hatte sie überhaupt nichts gehört, und das beunruhigte sie stark. Sie fürchtete um Estelle.
Hannah blieb mit verschränkten Armen an der Tür stehen und sah der Freundin beim Packen zu. Sie hatte ihre eigene Meinung über Samantha Hargrave, aber die äußerte sie nicht. Sie fand es hirnverbrannt, daß dieses hübsche Mädchen es sich in den Kopf gesetzt hatte, Ärztin zu werden. So ein hübsches junges Ding sollte lernen, die Herzen der Männer zu brechen, nicht, sie wiederzusammenzuflicken. Völlig unnatürlich diese Interesselosigkeit an einem Haufen galanter junger Männer, von denen einige sie unverhohlen anschwärmten. Hannah hatte die sehnsüchtigen Blicke der Verehrer, wenn sie ihnen bei abendlichen Spaziergängen begegnet waren, sehr genau registriert.
Von Joshua
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