Sturmkönige 01 - Dschinnland
Herzschlags. Es tat nicht mehr weh – jedenfalls nicht so sehr, dass es nach all dem, was er durchgemacht hatte, noch die Bezeichnung Schmerz verdient hätte –, aber das Pulsieren war unangenehm. Nur langsam ebbte es ab.
»Wir sollten runtergehen«, sagte sie. »Dann kann ich es mir genauer ansehen.«
Er schüttelte den Kopf. »Erst müssen wir so weit wie möglich von hier weg. Der Schlammvulkan liegt sicher nur zwei, drei Täler von hier entfernt. Die Dschinne mögen ihren Anführer verloren haben, aber auch ohne ihn wird es hier bald nur so von ihnen wimmeln.«
»Was waren das für Leute?«, fragte sie. »Und warum haben sie… ich meine, warum reiten sie auf Stürmen?«.
»Ich weiß es nicht. Kannst du von hier aus welche sehen?«
»Nichts. Keine Spur von ihnen.«
»Wir müssen ihnen folgen.«
»Nein«, sagte sie entschieden. »Wir fliegen nach Bagdad.«
»Ich muss Junis – «, begann er, als ihm mit einem Mal klar wurde, dass in ihrer Stimme wieder jener Unterton lag, den sie zuletzt fast verloren hatte: Dieselbe unbändige Willenskraft und Stärke, mit der sie ihn schon in der ersten Nacht in Samarkand in ihren Bann gezogen hatte.
»Du hast unser Leben aufs Spiel gesetzt, um ihn zu befreien«, sagte sie scharf. »Jetzt ist er in Sicherheit. Das muss genügen.«
»Bei den Sturmreitern? Selbst wenn es so wäre – in dieser Gegend gibt es keine Sicherheit. Wir können ihn nicht zurücklassen, nicht hier.«
»O doch«, erwiderte sie. »Ich kann.«
Er packte sie am Oberarm und riss sie herum. Der Teppich geriet ins Schleudern, als sie für einen Augenblick die Kontrolle über das Muster verlor.
»Er ist mein Bruder! Du kannst nicht erwarten, dass ich – «
»Dass du eine Entscheidung triffst, was du eigentlich willst? Ob du weiterleben willst? Das hier ist keines deiner kindischen Rennen durch Samarkand, Tarik! Wenn du unbedingt weiter mit dem Schädel gegen die Wand laufen willst, dann tu es. Aber ohne mich. Bring mich erst nach Bagdad, und wenn du dann gehen willst…« – die Spur eines Zögerns – »… werde ich dich nicht aufhalten.«
»Ich werde ihn nicht einfach im Stich lassen.« Weder ihn, fügte er stumm hinzu, noch Maryam.
»Ich habe ihn gesehen, Tarik. Nicht nur im Pferch, sondern auch später unter den Gefangenen, die gerettet wurden. Du musst mir endlich vertrauen. Ist das wirklich zu viel verlangt?«
Er stockte, schüttelte langsam den Kopf. »Es geht nicht. Tut mir leid.« Und damit ließ er sie los, schob die Hand ins Muster -
- und schrie gellend auf, als sie ihm die Binde vom Gesicht riss. Das Licht fuhr wie eine Messerklinge in sein Auge, schien sich durch sein Gehirn zu bohren und die Rückseite seines Schädels zu zertrümmern.
In einem verzweifelten Reflex hob er beide Hände vors Gesicht, überließ ihr die Macht über das Muster und war für einen Moment völlig in seinen Schmerz versunken.
»Versuch nicht mehr, mich aufzuhalten«, sagte sie niedergeschlagen. »Wir haben schon zu viel Zeit verloren.«
Die lose Binde flatterte im Gegenwind um seinen Hals, aber er kam nicht gegen den Instinkt an, die Hand weiterhin auf das Auge zu pressen, als wäre dies das Einzige, das ihn vor dem Schmerz bewahren konnte. Vor dem entsetzlichen Licht da draußen. Vor dem, was Amaryllis ihm angetan hatte. Und er hatte plötzlich die zutiefst beunruhigende Ahnung, dass der Schmerz nicht mehr als ein Vorgeschmack auf die Wahrheit war, auf das tatsächliche Ausmaß seines Verderbens.
»Es tut mir leid«, fuhr sie fort, und sie klang aufrichtig traurig dabei, fast so, als würde sie gegen ihre eigene Überzeugung anreden. »Wenn ich in Bagdad bin, kannst du tun, was du willst. Zieh los, um Junis zu suchen. Oder Maryam, wenn du glaubst, dass du sie je finden wirst. Aber ich muss nach Bagdad. Es geht nicht anders.«
Er kniete auf dem Teppich, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, das Gesicht in den Händen vergraben. Es kostete ihn Überwindung, wenigstens die Rechte herunterzunehmen und das gesunde Auge langsam zu öffnen. Vor sich sah er Sabateas schmale Silhouette, und er erkannte, dass sie genau nach Westen in die sinkende Sonne flogen. Das weiße Gleißen lag wie eine Aureole um ihr wehendes Haar, um ihren schmalen Rücken, der vor dem grellen Licht noch zierlicher wirkte.
»Du kannst versuchen, mich vom Teppich zu werfen«, sagte sie. »Wenn du das nicht tun willst, würde ich mir gut überlegen, wie weit du gehen willst. Solange du diese Binde trägst, fürchte ich,
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