Sturmkönige 01 - Dschinnland
in die Hocke, bis ihre Augen wieder auf einer Höhe waren. Sie versuchte ein aufmunterndes Lächeln, bemerkte, dass es misslang, und blickte ihn ernst und eindringlich an. »Du siehst jetzt das, was er gesehen hat. Oder nicht gesehen hat.«
»Eine Welt ohne Dschinne, hat er gesagt. Aber ich bin kein Dschinn. Und du bist keiner. Ich verstehe das nicht.«
Sie überlegte und schüttelte schließlich den Kopf. »Du musst Geduld haben.«
»Geduld?« Seine Stimme überschlug sich fast. »Bis was genau geschehen wird?«
»Bis wir wieder unter Menschen sind. Warte ab, was du dann siehst.«
»Leere Städte und Dörfer? Oder überhaupt nichts? Nur Wüste und Einöde?« Er zerrte die Binde hoch über das Auge und zog mit zitternden Händen den Knoten am Hinterkopf fest. »Ich weiß nicht, was Amaryllis gesehen hat. Aber es hat ihn in den Wahnsinn getrieben.«
»Nein«, widersprach sie energisch. »Ich glaube nicht, dass er wahnsinnig war. Ich habe mit angehört, was er gesagt hat, unten zwischen den Trümmern.«
»Ich hätte ihn sofort ins Feuer werfen sollen, statt mir sein Geschwätz anzuhören.«
»Er hat geglaubt, dass er die Zukunft sieht, nicht wahr? Dass ihm sein eines Auge zeigt, was erst noch kommen wird. Nach den Dschinnen.«
Er knurrte etwas, das nach Zustimmung klingen sollte, aber eigentlich nur ein zorniger Laut war. Er wünschte, er hätte diesen Hundesohn noch einmal töten können. Wieder und wieder und wieder.
Sabatea überlegte weiter. »Er hat gesagt, dass die Dschinne hinter uns Menschen aufräumen – das war doch das Wort, das er benutzt hat. Und dass auch sie wieder verschwinden würden und nach ihnen etwas Neues käme – vielleicht wieder Menschen, aber anders oder besser oder… was weiß ich.« Mit einem Seufzen ließ sie sich auf den Fels sinken, zog die Knie an und legte die Arme darum. Ihre offene Haarflut war so schwarz wie die Nacht zwischen den Sternen. »Die Tatsache, dass du hier auf dem Berg nichts siehst, muss überhaupt nichts bedeuten. Hier oben ist nie irgendjemand gewesen, und wahrscheinlich wird auch niemals irgendwer hier raufkommen. Aber anderswo, in Bagdad – «
»Natürlich. Sehr geschickt.«
Sie unterdrückte ein Lächeln. »Bagdad wird es womöglich auch in fünfhundert Jahren noch geben. Vielleicht kannst du ja dort sehen, was erst noch sein wird. Wer in ein paar hundert oder ein paar tausend Jahren in der Stadt leben wird.«
»Du hast gesagt, die Dschinne wollen Bagdad angreifen.«
»Junis hat das gesagt. Und er hatte es von den anderen Gefangenen.«
»Dann sehe ich vielleicht nur Ruinen.«
»Vielleicht, ja.« Sie hob die Mundwinkel zu einem schattenhaften Lächeln. »Oder auch nicht. Warten wir’s ab.«
Er betrachtete sie mit dem gesunden Auge im Mondschein und fand sie wunderschön, trotz des Schmutzes auf ihrem Gesicht, trotz der staubigen Nester in ihrem langen Haar. Trotz der Erschöpfung, die wie die Spiegelung von wehenden Nebelfetzen in ihren Augen lag.
Sie war nicht gut für ihn, vielleicht für niemanden, das wusste er. Ihre Geheimnisse betrafen nicht nur sie allein, so viel war klar, und sie war bereit, alles dafür aufs Spiel zu setzen. Früher hatte er sich manchmal über sich selbst gewundert, über seinen Mangel an Skrupel während der Rennen, über seine Kaltblütigkeit im Umgang mit anderen. Vielleicht war es das, was ihn so zu ihr hinzog: Sie war wie er. In ihrer Zielstrebigkeit, ihrer Hartnäckigkeit und der Fähigkeit, ihr Gewissen einfach auszublenden und zu tun, was nötig war.
In Samarkand hatte er gewusst, was die Unmengen Wein ihm Abend für Abend antaten, und dennoch hatte er nicht die Finger davon lassen können. Die Sache mit ihr war ähnlich – und doch ganz anders.
Er zögerte nur kurz. Dann beugte er sich vor, über ihre angezogenen Knie hinweg, und küsste sie. Ihre Lippen schmeckten nach Asche und Salz, aber es war ein Kuss, der ganz anders war als der vor einer Ewigkeit in der Nacht über Samarkand. Derselbe Mond, dieselben Sterne. Aber jetzt war da Zuneigung. Liebe, vielleicht. Und eine ganze Menge Verzweiflung.
»Du kennst mich nicht«, flüsterte sie.
»Nein«, sagte er.
»Vertraust du mir jetzt?«
Er gab keine Antwort, und sie fragte kein zweites Mal.
Das Heer im Salz
Im Laufe des nächsten Tages gewöhnte sich Tarik langsam daran, mit nur einem Auge zu sehen. Er machte keinen weiteren Versuch, die Binde abzunehmen. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr fürchtete er, was er womöglich zu sehen
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